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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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auch schon, aber am Telefon war er wohl zu aufgeregt. … Möchtest du Mary auch guten Tag sagen?«
    »Aber natürlich.« Mary klang so fröhlich und aufge-kratzt wie immer; sie erzählte ihm, daß die Sonne schien, daß sie im Lauf des Vormittags die neuen Krockettore im Garten aufstellen würden, daß Georgie schon wieder zahnte…
    Als George auflegte, fühlte er sich von lastendem Schweigen umfangen, als ob ein schöner Traum jäh – und mit Getöse – abgerissen wäre. Lärmendes Schweigen, das gab es schon, oder? Für ein paar Minuten hatte er die 182
    Sonne Kaliforniens gespürt, hatte – beinahe – mit angehört, wie Gabeln und Löffel gegen die Frühstücksteller klirrten, hatte das Brabbeln eines einjährigen Kindes vernommen und das Lachen seines Sohnes, eines glücklichen Ehemanns.
    Er wollte nach einer Zigarette greifen – vielleicht der neunten heute? –, unterließ es aber aus Angst, die Erscheinung heraufzubeschwören, die Raucher war wie er. Und dann Maggie. Warum hatte das – wie sollte er es nennen? –, warum hatte es ausgerechnet Maggie erwähnt? Eine Geschichte, die dreißig, nein genau dreiunddreißig Jahre zurücklag! George war damals erst achtzehn gewesen, und er hatte das einzig Richtige getan. Jawohl. Mit der Hilfe –
    mit dem Geld – seines Vaters, zugegeben, aber trotzdem war es richtig gewesen. Kein Zweifel, er war verliebt gewesen in Maggie und sie in ihn. Und er hatte Maggie geschwängert, obwohl sie beide versucht hatten, aufzu-passen. An eine Heirat war nicht zu denken. Er hatte noch vier Jahre Studium vor sich, und damit hätte Maggie sich nicht abgefunden. Oder doch? Nein, Maggie war ein un-bedarftes Mädchen, damals jedenfalls. Eine Jugendtorheit, Punktum!
    George wußte wohl, daß seine Argumentation ziemlich schwach war. Er stand auf, dachte wieder an eine Zigarette und versagte sie sich abermals. Kaffee, ja, und dann noch einmal die Polyfax-Unterlagen durchgeackert. Kopf hoch, George, nur Mut! Er ging in die Küche, um den Kaffee aufzuwärmen.
    Sein Doppelgänger stand mit dem Rücken zur Spüle und trug jetzt, genau wie George, dunkelgraue Hose, blauen 183
    Kaschmirpullover und Hausschuhe. »Mut! Haha. Du hast dich kein bißchen verändert.« Die Erscheinung rauchte eine Zigarette; George sah es mit einer Mischung aus Neid und Scham.
    »Mir aus den Augen!« rief George und holte mit der Rechten zu einer Rückhand aus, die das Trugbild am Kopf getroffen hätte, wäre es denn real gewesen.
    Die Erscheinung duckte sich unter jungenhaftem Gelächter.
    Hatte George etwas berührt, und sei es auch nur flüchtig? Er war sich nicht sicher.
    »Du hast ja eine Stinklaune! Na dann, schönen Tag noch!« sagte Georges Doppelgänger und spazierte aus der Küche.
    George stürzte ihm hitzig nach und streckte die Arme nach ihm aus, wie eine Subway-Wache, die mit Gewalt versucht, den letzten Passagier in einen überfüllten Zug zu pressen. Aber Georges Hände griffen ins Leere, und als er sich blinzelnd die Augen rieb, sah er auch nichts mehr.
    An dem Tag kam das Phantom nicht wieder, und abends um zehn war George schon besser aufgelegt, ja sogar ganz vergnügt. Er hatte die Polyfax-Akten durchgearbeitet, ein bißchen ferngesehen und sich, während er den Kühlschrank abtaute und auswischte, ein Beethoven-Konzert auf Platte angehört. Nichts als eine optische Täuschung, dieser Doppelgänger! Eine bloße Illusion. George hatte sich auf dem Sofa ausgestreckt und hing seinen Gedanken und Träumen nach. Und dabei kam er zu der Einsicht, das ganze Leben sei nur eine Illusion – eine von Fortschritt und Leistung 184
    (vorgetäuscht durch immerwährende, lächerliche Betrieb-samkeit, dringende Termine und Ultimaten, kurz den ganzen albernen Zirkus, den die Menschheit »Arbeit«
    nennt). Und wie stand es um Georges Leistungen – was hatte er erreicht? Er stand in dem Ruf, ein guter Anwalt zu sein, und er hatte Geld. Ein gutgefülltes Bankkonto und Wertpapiere, auf deren ihr zustehenden Anteil Liz bei der Scheidung verzichtet hatte. Anfangs hatte sie sich von ihm Unterhalt zahlen lassen, aber seit sie vor einem Jahr geheiratet hatte, lehnte sie sogar das ab. Ihm und Liz gehörte ein Cottage auf Montauk Point, das sie nur selten genutzt hatten, aber jetzt meinte Liz, sie sollten es gemeinsam behalten, da sie sich ja jederzeit darüber verständigen könnten, wer jeweils dort Ferien machen wolle, und einander mithin nicht ins Gehege kommen würden. George war seit der Scheidung erst einmal

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