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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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dort gewesen, und auch das nur, um ein paar Bücher und Schallplatten sowie seine persönlichen Sachen abzuholen.
    Geld hatte er, ja, doch wozu? Sein Sohn verdiente gut und brauchte sein Geld nicht. George jr. war Anwalt wie er. Bis es Schlafenszeit wurde, hatte George sich in eine dumpfe Depression hineingegrübelt. Immerhin ließ sich das Phantom nicht mehr blicken, auch dann nicht, als George im Bett seine zwölfte Zigarette rauchte.
    Am nächsten Morgen fand George unter der Post ein Kuvert, auf dem er Liz' Handschrift erkannte. Er öffnete den Brief, während er an der Fifth Avenue auf seinen Bus wartete. Liz lud ihn für heute, Montag, zum Abendessen ein und hatte Eds Büronummer dazugeschrieben (die George sowieso irgendwo hatte), damit er sich mit ihm für 185
    die Fahrt verabreden konnte.
    »… ich weiß, Du bist kein Freund von schnellen Entschlüssen, und darum wähle ich den Postweg. Ich denke, daß Du diese Zeilen Samstag, spätestens aber Montag morgen erhältst. Bitte versuche es einzurichten. Wir haben Eds Sohn Willie zu Besuch. Er hat sich beim Basketball den Knöchel gebrochen und erholt sich nun für ein paar Tage bei uns. Er ist jetzt achtzehn. Wenn ich mich recht entsinne, kennst Du ihn bereits von einer früheren Begegnung …«
    George verdrängte diesen Brief fürs erste – oder zumindest versuchte er es. Heute mußte er sich ganz auf Polyfax konzentrieren. Ed würde er nachmittags, kurz vor drei, anrufen und höflich absagen. Aber der Gedanke, sein Doppelgänger, dieses Phantom, könnte ihn dafür der Feigheit bezichtigen, brachte ihn während der morgendli-chen Konferenz immer wieder aus dem Konzept. Angenommen, die Erscheinung kam wieder, würde sie George dann nicht womöglich unterstellen, ihm fehle der Mut, der Anstand, eine Essenseinladung seiner früheren Frau und ihres Mannes anzunehmen, obwohl die beiden doch wirklich reizend seien, ohne es mit ihrer Freundlichkeit zu übertreiben?
    George rief Ed um Viertel vor drei an und sagte, er käme herzlich gern.
    »Wie schön! Liz wird sich freuen«, sagte Ed mit dem gewohnten Lächeln in der Stimme. »Können wir uns dann an meinem Parkhaus treffen, dem Kammer? Ecke Forty-ninth Street und Sixth Avenue.«
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    George war einverstanden. Er hatte sich schon einmal mit Ed vor dessen Parkhaus getroffen. Als George die Kanzlei verließ, ging er zunächst zwei Häuserblocks weit nach Norden und kaufte bei einer alten Frau, die, sofern das Wetter einigermaßen zuverlässig war, mit ihrem Kar-ren an einer bestimmten Ecke stand, einen bunten Nelken-strauß.
    »Wie geht es Ihnen, Sir?« fragte die Alte, die wie ge-wöhnlich dick in mehrere Lagen Wollpullover und Pelerine eingemummelt war.
    George zahlte ihr doppelt soviel, wie sie verlangte. Wie oft hatte er bei ihr Blumen für Harrietta gekauft, nachdem er zuvor Liz angerufen und ihr gesagt hatte, daß er ein, zwei Stunden länger zu tun habe!
    Es war kurz vor sieben, als Ed und George mit seinem Strauß die kleine Steintreppe zum Tuttleschen Haus hin-aufstiegen, einem viergiebeligen Gebäude, aus dessen Schornstein eine Rauchfahne in den Abendhimmel stieg.
    Während der halbstündigen Autofahrt hatten die beiden Männer sich angenehm unterhalten. Eds Sohn Willie, sein einziges Kind, studierte an der Columbia University und lernte fleißig, war aber ansonsten in den Augen seines Vaters ein bißchen draufgängerisch – daher der Basketball-unfall.
    »Hallo, George! Ich freue mich ja so, daß du kommen konntest! Ed hat extra angerufen und mir Bescheid gesagt.« Liz küßte George auf die Wange, drückte ihm die Hand. »Oh, vielen Dank! Sind die nicht zauberhaft?« rief sie, als er ihr die Blumen überreichte. Sie trug ein braunes Satinkleid, und ihr üppiger Busen wölbte sich prall unter 187
    dem leichten Stoff. Ihr braunes Haar glänzte und fiel so locker und duftig, als ob sie frisch vom Friseur käme. Sie strahlte vor Glück. Auf dem Weg ins Wohnzimmer ging sie voran und hielt die Rechte nach hinten ausgestreckt, ohne indes Georges Hand wirklich zu berühren. »Du er-innerst dich doch an Willie, nicht, George?«
    George nickte. Willie saß am Kamin, hatte den eingegip-sten Fuß hochgelagert und begrüßte ihn höflich.
    »'n Abend, Sir. Mit dem Klumpfuß fällt mir das Aufstehen ein bißchen schwer. Aber ich schaff's schon«, fügte er hinzu und stemmte sich an den Armlehnen seines Sessels hoch.
    »Überanstrengen Sie sich nicht, Willie! Wie geht's Ihnen denn – abgesehen von dem Fuß?«

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