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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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zuviel getrunken. Mit schreckensstarrer Miene und verkniffenem Mund faßte George das Trugbild noch einmal ins Auge.
    Freundlich erwiderte die Gestalt seinen Blick. Sie trug den gleichen weinroten Morgenmantel wie er, ihre braunen Haare waren grau meliert (wie seine eigenen, gestand er sich ein), die Wangen von den ersten Altersfalten gezeichnet. George hatte keinen Bruder und kannte keinen Vetter, der ihm so frappierend ähnlich sah. Es hätte nur zweier Schritte bedurft, und George hätte den anderen berühren können, aber er wollte nicht. Unterdessen lächelte die Gestalt ihn unverwandt an, und George bemerkte angewidert einen gelblich verfärbten Eckzahn. Ekelhaft!
    So also nahm seine Umwelt ihn wahr! Nicht einmal gesund und adrett sah er aus!
    »Bist nicht sehr stolz auf dich, was?« Die Gestalt griff nach der ausgedrückten Zigarette und setzte sie mit einem Streichholz aus der Schachtel auf dem Küchentisch wieder in Brand. »Ist bestimmt schon die vierte, und das so früh am Morgen. Schummelst du auch nicht beim Zählen?«
    George war sich keiner Schuld bewußt. Aber jetzt hatte er immerhin einen Anhaltspunkt. »Falls Sie mein Gewissen sind«, brummte er achselzuckend, aber ohne dem Blick des anderen standhalten zu können, »dann falle ich nicht darauf rein. Visionen: Ist doch ein alter Hut, so was.«
    Im selben Augenblick begriff er, daß er sich eine Blöße gegeben hatte, einfach dadurch, daß er laut redete. War das 174
    nicht so, als würde man Selbstgespräche führen? »Das andere Ich«, höhnte George trotzig. »Was für ein Quatsch!«
    »Kein anderes Ich. Dein Ich«, korrigierte das Phantom gelassen.
    George gruselte sich bis ins Mark vor der leibhaftigen, sogar leicht übergewichtigen Erscheinung im Türrahmen, aber er war entschlossen, so zu tun, als existiere sie nicht, und durch die Tür zu seiner Zeitung im Wohnzimmer zurückzukehren. Und mit erhobener Tasse, als wollte er damit die Gestalt durchbohren, wenn sie nicht Platz machte, rückte er vor.
    Das Gespenst wich mit einem gewandten Schlenker in den Flur aus und gab den Weg frei.
    George wäre wohler gewesen, wenn er durch die Gestalt hätte hindurchlaufen können, hätte er doch damit bewiesen, daß sie nicht wirklich existierte. Er griff nach der Times wie nach einem Rettungsring und vertiefte sich in den Börsenteil. Gutes, solides Nachrichtenmaterial. Dollarkurs im Vergleich zu Deutschmark und Yen weiterhin auf Talfahrt. Gierig und konzentriert verschlang George Zeile um Zeile.
    Trotzdem entging ihm nicht, wie die Gestalt im weinroten Morgenmantel ins Wohnzimmer geschlendert kam.
    »Nein, bist nicht besonders stolz auf dich… Hast du Liz mal wieder gesehen?«
    George, der verärgert aufgeblickt hatte, stellte erfreut fest, daß die Gestalt jetzt, da ein gleißender Sonnenstrahl auf sie fiel, gleich verschwommener wirkte. Na bitte! Aber als das Phantom stehenblieb, sah er auch, daß die Quasten 175
    am Gürtel des Morgenmantels ganz realistisch hin und her pendelten. »Liz will mich nicht sehen«, sagte George entschieden und mit jener höflichen Bestimmtheit, die er in seiner Kanzlei annahm, wenn es galt, ein Argument durchzudrücken.
    »Natürlich will sie. Sie würde gern wieder freundschaftlich mit dir verkehren. Sie trägt dir nichts nach, obwohl sie allen Grund dazu hätte. Es liegt an dir. Du entziehst dich –
    weil du dich schämst.«
    Wieder das alte Gewissensspiel. Ich sollte kalt duschen, dachte George, damit ich dieses Ding loswerde.
    »Bezweifle sehr, daß du mich dadurch los wirst.«
    Jetzt konnte George durch den Rumpf der Gestalt ein Stück vom Bücherschrank erkennen. Das machte ihm Mut.
    »Weil ich du bin – nicht dein zweites Ich«, fuhr die Gestalt fort und kicherte.
    George erkannte sein eigenes Kichern. Natürlich hatte er auch seine Stimme erkannt. Ich kann mich nicht mal selber leiden, schoß es ihm durch den Kopf. Das Kichern hatte ihm nicht gefallen, weil es irgendwie unaufrichtig klang.
    Aber George hielt sich nicht für unaufrichtig, nicht von Grund auf jedenfalls. Kleine Flunkereien waren unvermeidlich – ohne die würden Gesellschafts- und Geschäfts-leben wohl kaum funktionieren. Doch wenn man ihn auf-gefordert hätte, sich selbst zu bewerten, dann hätte George sich als genauso ehrlich, ja, womöglich noch ehrlicher eingestuft, als den Durchschnitt. Bis zu diesem Kichern eben.
    Was hielten die anderen eigentlich wirklich von ihm?
    »Was nun Liz angeht«, sagte die Erscheinung, und es 176
    klang, als

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