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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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George eindringlich. Ko-mischerweise ließ ihm seine kräftige Stimme das Phantom realer erscheinen als zuvor. Glaubte der Seelenklempner ihm etwa nicht? Aber er sagte doch die Wahrheit!
    »Das alles«, versetzte der Doktor ruhig, »könnte auch eine Folge von Überanstrengung sein. Waren Sie in letzter Zeit beruflich sehr angespannt?«
    Polyfax. Das war ein großer Auftrag, aber keiner, der ihn übermäßig belastet hatte. Nicht einmal der Termin-druck war besonders hart. »Nein«, sagte George.
    »Haben Sie vielleicht irgendwelche Schuldgefühle?«
    Der Zeiger an Dr. Kublicks Wanduhr sprang fünf Minuten weiter. Wie ordinär, dachte George, eine Stoppuhr im Fünfminutentakt in einem Sprechzimmer, wo Zeit Geld ist. Gedanken und Träume aber richteten sich nicht nach dieser Währung, ja nicht einmal nach der Zeit. Oder verstand Dr. Kublick diese Uhr, die auch für die Patienten sichtbar war, die sich lieber auf der Ledercouch rechts von 194
    George ausstreckten, womöglich als Stütze für seine Patienten? Als ein Requisit, das ihnen die Rückkehr in die Realität erleichterte? Dr. Kublick hatte ihm gerade eine entscheidende Frage gestellt, die sich unmöglich in wenigen Sätzen beantworten ließ. Hatte denn nicht jeder Mensch Schuldgefühle in einem oder auch in mehreren Fällen? Wäre es normal, sich absolut schuldlos zu fühlen?
    »Ich denke, ich habe ein ganz normales Quantum Schuldgefühle. Jedenfalls würde ich sie nicht gravierend nennen – und schon gar nicht zwanghaft.«
    »Und können Sie mir ein Beispiel geben?«
    Noch zwei Minuten. George zerbrach sich den Kopf. In seiner Verzweiflung dachte er unwillkürlich an eine Frau, die in einem Nähkorb wühlt, auf der Suche nach einem Garn in einer ganz bestimmten Farbe. »Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich während meiner Ehe zwei Jahre lang ein Verhältnis hatte. Aber ich war deshalb nicht weniger nett zu meiner Frau.« Er würde jetzt nicht noch die Geschichte mit Maggie hervorkramen. Diese Teenagertorheit war es bestimmt nicht, was ihn belastete. Und auch Harrietta war nicht das Problem. Er und Harrietta hatten sich gütlich getrennt. Beide waren übereingekommen, daß es besser sei, einander nicht wiederzusehen, weil sich mit Harriettas Widerruf ihrer Heiratsabsichten und seinem raschen Einverständnis auch ihre Affäre überlebt hatte. »Ich bin überzeugt, Schuldgefühle sind nicht der Auslöser für diese…
    Halluzinationen.«
    Dong!
    Es klang wie der Gong am Ende einer Boxkampfrunde.
    Der Doktor erhob sich und mit ihm George, der schon ans 195
    Bezahlen dachte. Aber der Psychiater bedeutete ihm, das könne auch seine Sekretärin regeln, und George hörte heraus, daß er sich unverzüglich für seinen Sieben-Uhr-Patienten freimachen wolle.
    »Sie sind nervlich sehr angegriffen«, sagte der Doktor, als George schon fast an der Tür war. »Finden Sie heraus, was Sie belastet, versuchen Sie es. Und falls Sie mich noch einmal konsultieren möchten…«
    George schrieb einen Scheck über fünfzig Dollar aus.
    Einen neuen Termin ließ er sich nicht geben. Dazu war, falls er eine weitere Sitzung für nötig halten sollte, in den nächsten Tagen immer noch Zeit.
    Statt Klarheit gewonnen zu haben, fühlte er sich benommen. Was hatte Dr. Kublick ihm schon groß erklärt?
    Und dabei hatte George all seine Probleme vor ihm ausgebreitet, hatte sich sogar zu gewissen Einsamkeitsgefühlen bekannt. Aber was hatte er denn bei Lichte besehen verbrochen? Oder anders gefragt: Was hatte er ein Leben lang so falsch gemacht, daß er dafür von einem Gespenst heimgesucht wurde, das ihm anscheinend (George konnte sich des Eindrucks nicht erwehren) unbedingt die Leviten lesen wollte?
    Waren diese Visitationen seiner selbst tatsächlich die Vorboten des Wahnsinns? Oder hatte er das Gespenst wirklich gesehen? Existierte es wahrhaftig (immerhin gab es Menschen, die an Geister glaubten) und mischte sich aus triftigem Grund in sein Leben ein? Gab es einen überge-ordneten Richter, der für solche Fragen zuständig war?
    George dachte dabei nicht an Gott, sondern an ein abstraktes Wertesystem, das bislang vielleicht nicht einmal 196
    die hochrangigsten Philosophen entschlüsselt hatten. Weshalb man sich bemühen mußte, selbst dahinterzukommen.
    George sah ein, daß er bisher nicht einmal den Versuch dazu unternommen habe, weshalb er sich moralisch gesehen so minderwertig dünkte wie ein ungebildeter Bauer, so minderwertig wie irgendein Vierbeiner, allerdings ohne dessen einfältige

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