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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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wollten fragen, ob Sie nicht vielleicht Lust hätten mitzukommen, so gegen zwei?
    Morgen vormittag haben wir ja frei, weil Veteranentag ist, wissen Sie?«
    »Ja, sicher.« Hielt dieser Bobbie ihn für verrückt? Als ob er nicht wüßte, daß morgen Feiertag war! »Neuerdings 282
    trauen die Politiker sich nicht mehr, vom Waffenstill-standstag zu reden, was? Jetzt heißt es Veteranentag.«
    Bobbie lachte gezwungen. Er verlangsamte seinen Schritt. »Also, was ist, sehen wir Sie morgen? Vince kommt auch. Der Wetterbericht ist gut, wir trinken ein paar Bier zusammen und –«
    Aaron blieb stehen und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Nein, danke. Tut mir leid, ich habe ein paar dringende Briefe zu schreiben.« Bobbies Gesicht verriet ungläubiges Staunen. Dachte er etwa, in seinem Leben gäbe es niemanden, dem er zu schreiben hatte? »Trotzdem danke, Bobbie. Guten Abend.« Und ehe Bobbie etwas erwidern konnte, ging Aaron rasch davon.
    An dem Abend litt Aaron Höllenqualen. Er kam sich vor wie ein Versager, ein nichtswürdiger Feigling, weil er Bobbie heute im Amt nicht getötet hatte – oder wenigstens vorhin, als sie beide allein durch die dunklen, stillen Straßen gelaufen waren. Er schämte sich vor seinem Tagebuch und davor, das blamable Geständnis hineinzuschrei-ben, daß er nichts zuwege gebracht habe, obwohl er doch sich und dem Tagebuch große Taten versprochen hatte. Er haderte so sehr mit sich, daß er nachts nicht schlafen konnte. Es wurde ein miserables Wochenende.
    Am Montag, als sich an Rogers Schalter ein Berg von Paketen türmte und er ihn zu Hilfe rief, sagte Aaron laut und vernehmlich: »Sie sind tot.«
    Roger blieb der Mund offenstehen.
    Bobbie starrte ihn an.
    Ein paar Kunden vor dem Schalter, die es auch gehört 283
    hatten, musterten ihn verwundert. Einer lächelte.
    Aaron schaute Roger an. Dem hab ich's aber gegeben, dachte er, und tatsächlich wirkte Roger ganz verschreckt.
    »Wass'n mit dem los?« wollte Roger von Bobbie wissen.
    Bobbie ging zu Aaron. »Was ist denn, Aaron? Geht's Ihnen nicht gut?«
    »Mir geht's sehr gut, danke«, behauptete Aaron störrisch, obwohl er wußte, daß seine Augen nach den zwei schlaflosen Nächten blutunterlaufen waren.
    Sie überredeten Aaron, nach Hause zu gehen. Er sehe furchtbar müde aus, sagten sie. Erst wollte er sich widersetzen, doch bald gab er nach. Warum sollte er nicht heimgehen? Was war denn so schön an dieser überheizten, dau-erbeschallten Hölle? Aaron ging nach Hause und hielt in seinem Tagebuch fest, daß er mit seiner Enthüllung das ganze Postamt in Aufruhr versetzt habe. Nehmen Sie sich ein paar Tage frei, hatte Mac zum Abschied gesagt. Was für eine infame Beleidigung! Urlaub nehmen, einfach so.
    Wollten die ihm etwa Vorschriften machen?
    Doch Aaron stellte fest, daß ein paar freie Tage ihm durchaus nicht ungelegen kämen, und also nahm er Urlaub.
    Am dritten Tag kam ein Brief von Mac, in dem es hieß, er (Mac) und auch Roger würden ihm dringend raten, einen Arzt aufzusuchen. Sie hätten den Eindruck, daß er überarbeitet sei, unter einem besonderen Druck stehe und daß ein Arzt ihm vielleicht genau die richtige Medizin verordnen könne oder irgendwo einen kurzen Kuraufent-halt. Das klang genau wie früher bei Vera. Mac hatte sogar versucht, einen humorigen Ton anzuschlagen, wofür Aaron 284
    rein gar nichts übrig hatte. Er hätte ihn angerufen, schrieb Mac, wenn Aaron nur Telefon hätte, und er hätte ihn auch gern besucht, wolle sich aber nicht aufdrängen. Als aufdringlich empfand Aaron schon seinen Brief, und auf jeden Fall war er der sprichwörtlich letzte Tropfen. Er kündigte seine Wohnung vertragsgemäß zwei Wochen im voraus (Aaron zahlte seine Miete vierzehntägig), und am 8.
    Dezember traf er in Tippstone ein, einem Städtchen in Pennsylvania, fünfundsiebzig oder achtzig Meilen von Copperville, New Jersey, entfernt. Hier mietete er ein möbliertes Haus für fünfzig Dollar pro Monat, über zehn Dollar billiger als seine Bleibe in Copperville. Zwei, drei Wochen wollte er sich Zeit zum Nachdenken nehmen und seine nächsten Schritte planen. Vermutlich würde es darauf hinauslaufen, daß er im hiesigen Postamt eine vergleichbare Stelle annahm wie zuvor in Copperville. Einstweilen aber hatte er genug Geld und konnte es sich leisten, bis nach Neujahr nicht zu arbeiten, ohne deswegen seine Er-sparnisse ernstlich anzugreifen oder auf eine Ferienreise im nächsten Sommer verzichten zu müssen.
    Vier Tage vor Weihnachten

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