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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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ersten der beiden kahlen Reifenspuren in der Einfahrt diagonal über den schütteren Rasen zwischen beiden Häusern verlief, markierte die Abkürzung, die Aaron für gewöhnlich nahm. Das Postamt lag fünf Häuserblocks weiter, und der Weg dorthin führte Aaron durch ruhige Seitenstraßen mit Einfamilienhäusern, gesäumt von Ulmen und Ahornbäumen.
    Mac war schon da. Mac kam immer als erster, ein paar Minuten vor acht.
    »Morgen, Aaron«, sagte Mac, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
    »Morgen«, gab Aaron zurück, während er sein Jackett aufhängte.
    Mac stand hinter dem Schalter und verteilte im Schneckentempo Briefmarkenbögen in die dafür
    vorgesehenen breiten, flachen Schubfächer. Dazu brauchte Mac immer sehr lange, weil er jeden Bogen einzeln hochhielt und prüfend musterte, besonders, wenn es sich um Neuprägungen handelte. Aber er hatte offenbar schon seinen Spaß daran, bloß die Zacken ganz gewöhnlicher Marken wie der Vier-Cent-Lincoln und der Ein-Cent-Washington zu vergleichen. Man sollte es der Regierung melden, dachte Aaron, wieviel Zeit ihr Postmeister, ihr leitender Beamter im Postamt von Copperville, New Jersey, mit Kleinkram vergeudete, den auch ein einfacher Lehrling hätte erledigen können.
    Auf einem großen Pult hinter Mac stand ein Schildchen mit der Aufschrift SPANNUNG, was so gedruckt war, daß es 274
    einem beim Lesen schmerzhaft vor den Augen flimmerte.
    Diese kleine Folter funktionierte mittels grauer Wellenli-nien, die abwechselnd ober- und unterhalb der fettge-druckten schwarzen Lettern verliefen und die Buchstaben optisch verzerrten. Aaron drehte das Schild so, daß er es beim Sortieren der Morgenpost nicht im Blickfeld haben würde. Der Schalterraum war überheizt, aber an diesem Morgen traute Aaron sich nicht, nach hinten zu gehen und en Thermostat neben der Toilette niedriger zu stellen.
    Mac hatte es gern warm, schon weil er gern in Hemdsärmeln arbeitete, und alle anderen mußten sich seinetwegen den ganzen Tag kaputtschwitzen. Aaron sah zu, wie Mac eine Schublade schloß, dann zu dem Muzak-Automaten ging und die Musikberieselung einschaltete. Als der Ton kam, war der Kasten in der Mitte von On the Sunny Side of the Street.
    Er macht das Ding nie an, bevor ich komme, dachte Aaron, er wartet auf mich, weil er weiß, daß ich das Gedudel nicht mag.
    »Was ist, Aaron … wollen Sie nicht mal anfangen, die Post zu sortieren?« Mac deutete mit dem Kopf auf die verschnürten Briefbündel auf dem Pult, auf dem Aaron das Schild SPANNUNG verrückt hatte.
    »Bin schon dabei«, sagte Aaron. Sehr diensteifrig klang es nicht. Er nahm den ersten Packen und nestelte die Schnur auf. Ungefähr achthundert Briefe, Aaron sah das auf einen Blick, waren für die Austräger, die zwischen neun und neun Uhr dreißig ihre Runde begannen, vorzu-sortieren. Auf dem großflächigen Pult legte er anhand der Straßennamen für jeden Zustellbereich einen eigenen Sta-275
    pel an. Copperville war zu klein, als daß es sich gelohnt hätte, die Viertel nach Postleitzahlen aufzuschlüsseln.
    Plopp, plopp, plopp. Die Briefe, die für die Postfächer draußen im Foyer bestimmt waren, schob er in numerierte kleine Fächer über dem Pult. Rechnungen, Reklame, Reklame, Rechnungen, Postwurfsendungen, Rechnungen, Gartenbauzeitschriften, Versandhauskataloge, Reklame, Reklame, Reklame.
    Roger Hoolihan kam in die Schalterhalle. Aaron streifte ihn nur mit einem flüchtigen Blick, dann beugte er sich wieder mit finsterer Miene über seine Arbeit. Er hörte, wie Mac und Roger sich gegenseitig einen guten Morgen wünschten.
    »Na, wieder aufm Damm?« erkundigte sich Mac.
    »Ach ja, danke, 'ne Prise Natron und ein Nickerchen, das wirkt bei mir Wunder«, sagte Roger.
    Mac stützte sich müßig mit einem Ellbogen auf den Schalter. »Was ist Ihnen denn so auf den Magen geschlagen? Die Apfelpastete mit Eis?« fragte er und lachte gluck-send.
    »Nein, ich hatte Fleischragout«, sagte Roger. »Ganz ge-wöhnliches Fleischragout und…«
    Aaron hätte bei diesem langweiligen Gespräch gern abgeschaltet. Und für einen Moment gelang ihm das auch, aber dann hörte er wieder die klebrige Musik: Ein schmachtender Bariton knödelte, begleitet von einem ge-waltigen Streicheraufgebot. »Und es war mir zum Greifen nah.« Aaron erinnerte sich, daß Roger gestern, um zwei, als er vom Mittagessen gekommen war, mit schmerzver-276
    zerrtem Gesicht zu Mac gesagt hatte: »Mann, mir ist ganz zweierlei, bestimmt hab ich was Verkehrtes gegessen. Ich

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