Die Augen der Toten 01 - Die Augen der Toten Teil 1
fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar, klopfte zweimal an und stieß die Tür auf – direkt in den Rücken einer rothaarigen Studentin, die erschrocken aufstöhnte.
„Können Sie nicht aufpassen“, fuhr sie ihn an.
Er murmelte eine Entschuldigung und sah sich verblüfft um. Der Raum drohte aus allen Nähten zu platzen. Zusammengepfercht wie Hennen auf der Legebatterie, kauerten Studenten Schulter an Schulter auf Stühlen, Fensterbänken und auf dem Fußboden. Jan Lohoff lehnte am Pult – die Arme lässig vor dem Körper verschränkt. Fast hätte Rensing ihn nicht wiedererkannt. In Bluejeans und schwarzem Rollkragenpullover gekleidet, mit einer ovalen Brille ohne Gestell, die Haare zu einem kurzen Zopf gebunden, hatte er mit dem geschniegelten Akademiker, als den Rensing ihn im Präsidium kennen gelernt hatte, nur noch wenig gemein.
„Hauptkommissar Rensing“, rief er aus. „Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuchs? Sie wollen doch nicht etwa in den Rosengarten der Philosophen eindringen?“
Im Raum brach Gelächter aus. Rensing errötete. „Entschuldigung. Ich wollte nicht stören.“
„Sie stören keineswegs. Im Gegenteil. Wir diskutierten gerade über die Frage, inwieweit sich unser Verständnis von Ethik und Moral auf philosophischen Erkenntnissen gründet. Was denken Sie, Herr Rensing?“
Aller Augen wandten sich ihm zu.
„Das ist zwar nicht mein Fachgebiet“, antwortete er zögerlich, „aber was den einfachen Mann von der Straße angeht, würde ich der Philosophie keine allzu große Bedeutung beimessen.“ Unter den Studenten setzte Getuschel ein. „Meine Vorstellungen von Ethik und Moral gewinne ich doch wohl eher aus der Erziehung und aus meinem gesellschaftlichen Umfeld.“
„Und woher haben Ihre Eltern und die Gesellschaft diese Vorstellungen?“, hakte Lohoff nach. „Was ist die Gesellschaft anderes, als eine Ansammlung von Individuen? Warum hat Frau Rupp Ihnen keine saftige Ohrfeige verpasst, als Sie ihr die Türklinke ins Kreuz gerammt haben? Und warum fordere ich meine Studenten nicht auf, den Störenfried aus meinem Seminar zu entfernen?“
Rensing kam sich vor wie ein kleiner Schuljunge.
„Wir sind vernunftbegabte Lebewesen, Herr Rensing. Wir alle haben eine Vorstellung, was richtig und was falsch ist, und unsere Vernunft ist weder anerzogen, noch werden Sie sie unter einem Mikroskop entdecken können. Ob Sie Ihre Handlungen nun an Kant, der Stoa oder den Utilitaristen orientieren und ob Sie sich dessen überhaupt bewusst sind, spielt nur eine untergeordnete Rolle.“
Rensing überlegte, wer oder was die Stoa und die Utilitaristen sein mochten, fragte aber nicht weiter nach. „Was den Stellenwert der Erziehung angeht, muss ich Ihnen aus meiner Erfahrung als Polizist wiedersprechen. Die meisten Straftäter kommen aus einem zerrütteten sozialen Umfeld. Lesen Sie mal die Statistiken, Herr Lohoff. Jugendliche, deren Eltern nur über eine geringe Schulbildung verfügen und obendrein Alkoholiker sind, geraten eher auf die schiefe Bahn als Jugendliche, die ein intaktes Familienleben genießen. Ein Kind, das sein Leben lang beschimpft und geschlagen wurde, hat erfahrungsgemäß auch selbst eine niedrige Hemmschwelle, was Gewalt angeht. Philosophie hat damit nichts zu tun.“
„Vorsicht, Herr Rensing.“ Lohoff reckte einen Zeigefinger in die Höhe. „Was Ihr unerschütterliches Vertrauen in die Erfahrung angeht, muss ich Sie warnen: In diesem Zimmer sitzt ein ganzes Heer von Kantianern.“
Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass ihm der Disput Spaß zu machen schien. Vielleicht amüsierte er sich aber auch nur über Rensings Versuch, sich auf ein Terrain zu wagen, auf dem er sich bewegte wie ein Schlittschuhläufer, der zum ersten Mal auf einer Eisfläche steht.
„Machen Sie nicht den Fehler, Philosophie als weltfremdes Gefasel abzutun, Herr Rensing. Sie müssen mir schon genau zuhören. Es geht nicht darum, wie ein Mensch sich verhält und warum er sich so verhält. Es geht darum, wie er sich verhalten sollte . Ihr straffällig gewordener Jugendlicher aus zerrüttetem Elternhaus ist sich des verwerflichen Charakters seiner Handlungen durchaus bewusst. Sonst könnte er auch von keinem Gericht der Welt für seine Taten verurteilt werden. Er wäre, wie es so schön heißt, unzurechnungsfähig. Ich muss keine Polizeistatistiken lesen, um zu wissen, dass ein intaktes soziales Umfeld das Risiko amoralischen Verhaltens minimiert – jeder Mensch ist die Summe seiner
Weitere Kostenlose Bücher