Die Augen der Toten 01 - Die Augen der Toten Teil 1
auch Sie Zweifel hegen. Zumindest war das am Samstagmorgen mein Eindruck.“
Lohoff sah Rensing an, als suche er in seinem Gesicht nach einer chiffrierten Nachricht. „Sie haben Recht, Herr Rensing.“ Gemächlich setzte er sich wieder in Bewegung. „Schon vor Wochen ist mir aufgefallen, dass Frank sich verändert hat. Manchmal erschien er zu spät zum Kolloquium, manchmal kam er gar nicht. Den Diskussionen stand er nur noch teilnahmslos gegenüber. Ich hatte schon länger den Verdacht, dass irgendetwas in seinem Leben in die falsche Richtung lief. Wenn ich Frank auf seine Probleme angesprochen und meine Hilfe angeboten hätte, wäre diese Tragödie vielleicht zu verhindern gewesen. Ich habe versagt, Herr Rensing, und das raubt mir den Schlaf.“
Er zog ein weißes Tuch aus der Hosentasche, nahm seine Brille ab und wischte sie sauber. „Die Philosophie war ein wichtiger Bestandteil in Franks Leben. Haben Sie sich nie Fragen gestellt, auf die Ihnen die exakten Wissenschaften keine Antworten geben können? Fragen nach der Existenz Gottes, dem Leben nach dem Tod, der Unendlichkeit des Universums? Philosophie ist kein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, sie ist wie ein Chamäleon, das sich seiner im steten Wandel befindlichen Umwelt anpasst und immer neue Themenfelder für sich erschließt. Frank hat nach Werten und Orientierungspunkten gesucht, an denen er sein Leben ausrichten konnte. Die Philosophie hat sein Denken und Handeln geprägt, wenn nicht gar bestimmt. Warum sollte es da verwundern, dass sie auch ein fester Bestandteil seiner Abschiedsbotschaft war?“
„Welcher Philosoph hat denn Mord und Selbstmord für moralisch vertretbar erklärt?“
Der junge Dozent machte keine Anstalten, die rhetorische Frage zu beantworten. Rensing vollendete seinen Gedankengang.
„Ist sein Freitod nicht vielmehr ein Zeichen dafür, dass er sich in einer Situation wiedergefunden hat, aus der ihm auch die Philosophie keinen rettenden Weg mehr weisen konnte? Ist Frank Laurenz vielleicht sogar in diese Situation geraten, weil er ihren Wegen gefolgt ist?“
Lohoff wirkte mit einem Mal abwesend. „Ich weiß es nicht, Herr Rensing.“
Ziggy Stardust
Ich fühlte mich wie gerädert. Die Fenster in meinem Zimmer verfügten weder über Jalousien noch über Vorhänge, doch es war nicht die Helligkeit, die mir das Einschlafen erschwert hatte. Um zehn ging das Telefon. Bernhard Laurenz, der mir nur kurz mitteilen wollte, dass Annette und er heute nach Gütersloh zurückfahren würden. Für einen Moment war ich versucht, Bernhard von dem Verdacht, Frank sei zum Zeitpunkt seines Todes nicht allein gewesen, zu erzählen, doch hielt ich lieber den Mund. Für derartige Spekulationen war es einfach noch zu früh. Stattdessen fragte ich ihn nur, ob er sich nicht vor der Abreise noch in Franks Zimmer umsehen wolle. Bernhard lehnte beinahe erschrocken ab. Ich solle mit Franks Hinterlassenschaft verfahren, wie ich es für richtig hielte. Das Gespräch dauerte nur eine Viertelstunde. Als ich den Hörer aufgelegt hatte, schleppte ich die durchgeschwitzte Bettwäsche zur Waschmaschine und setzte mich im Schneidersitz auf einen der Sessel in meinem Zimmer, um einen Katalog von Fragen zusammenzustellen, denen ich in den nächsten Tagen meine gesamte Aufmerksamkeit widmen würde.
Es war an der Zeit, mit einer Aufarbeitung der Ereignisse zu beginnen.
Laut Pressekonferenz war der Mord an Pape letzte Woche Dienstag zwischen 22 und 23 Uhr begangen worden. Die erste Frage auf meiner Liste lautete: „Wo warst du zum Zeitpunkt der Tat?“
Meine Arbeit für den AStA machte es seit Jahren erforderlich, einen Terminkalender zu führen. Letztes Jahr hatte Barbara mir zum Geburtstag einen kleinen Montblanc-Kalender geschenkt, den ich immer bei mir trug. Ich kramte ihn aus meiner Jackentasche und blätterte zur entsprechenden Seite. Für Dienstag, den 12. Juni gab es keinen Eintrag, aber ich konnte mich noch vage erinnern, am fraglichen Abend an einem Flugblatttext für unsere Protestaktionen gearbeitet und mir anschließend eine Dokumentation im Fernsehen angesehen zu haben. Frank hatte unsere Wohnung bereits am Nachmittag verlassen. Wann war er wieder zurückgekommen? Es musste irgendwann nachts gewesen sein, denn als ich am Mittwochmorgen gegen acht aufstand, konnte ich aus seinem Zimmer Geräusche hören. Zu Gesicht bekam ich ihn allerdings nicht. Ich ging um kurz nach neun und feilte den ganzen Tag mit meinen AStA-Kollegen an unseren Aktionen.
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