Die Augen des Drachen - Roman
wusste auch, warum das so war; er kannte den Grund für das
dünne Eis und den unangenehmen Geruch hier und die moosbewachsene, schlüpfrige Beschaffenheit der Mauersteine, und dieser Grund war seine einzige Hoffnung, unbemerkt ins Schloss zu gelangen. Er schlich vorsichtig nach links und horchte nach dem Geräusch fließenden Wassers.
Schließlich hörte er es und sah auf. Hier, in Augenhöhe, war ein rundes schwarzes Loch in der Schlossmauer. Ein dünnes Rinnsal lief lustlos heraus. Es war ein Abwasserrohr.
»Also los«, murmelte Dennis. Er ging fünf Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang. Dabei spürte er, wie das vom ständigen Zufließen warmen Wassers brüchig gewordene Eis unter ihm nachgab. Aber schon hing er an dem moosbewachsenen Rand des Rohrs, der schlüpfrig war, so dass er sich krampfhaft festhalten musste, um nicht abzurutschen. Er zog sich langsam höher, grub mit den Füßen nach Halt, und schließlich gelang es ihm, sich ganz hineinzuhieven. Er wartete einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen, dann kroch er weiter in das Rohr hinein, das konstant aufwärts verlief. Er und einige Spielkameraden hatten dieses Rohr als Kinder entdeckt, aber ihre Eltern hatten ihnen sehr rasch verboten, dort zu spielen, weil sie sich verirren konnten, besonders aber wegen der Ratten. Trotzdem glaubte Dennis zu wissen, wo er herauskommen würde.
Eine Stunde später bewegte sich in einem verlassenen Korridor im Ostflügel des Schlosses ein Abflussdeckel, lag still, bewegte sich erneut. Er wurde teilweise beiseitegeschoben, und wenige Augenblicke später zog sich ein sehr schmutziger (und sehr übel riechender) Diener namens Dennis aus dem Loch und lag keuchend auf
dem kalten Steinfußboden. Er hätte eine längere Ruhepause vertragen können, aber es konnte jemand vorbeikommen - selbst zu dieser nachtschlafenden Zeit. Daher rückte er den Abflussdeckel wieder an seinen Platz und sah sich um.
Er erkannte den Flur nicht sofort, doch das beunruhigte ihn ganz und gar nicht. Er ging auf die T-Kreuzung am anderen Ende zu. Wenigstens, dachte er, hatte es im Labyrinth der Abflussrohre unter dem Schloss keine Ratten gegeben. Das war eine große Erleichterung gewesen. Er war darauf vorbereitet gewesen, nicht nur wegen der grausigen Geschichten, die sein Vater ihm erzählt hatte, sondern weil es tatsächlich Ratten dort unten gegeben hatte, als er und seine Freunde sich ein paar seltene Male quietschend vor ängstlichem Lachen in die Rohre getraut hatten - die Ratten waren Teil der gruseligen, abenteuerlichen Mutprobe gewesen.
Wahrscheinlich waren es nur ein paar Mäuse, und deine Erinnerung hat sie zu Ratten werden lassen, dachte Dennis nun. Das war keineswegs so, aber Dennis sollte es nie erfahren. Seine Erinnerungen an die Ratten in der Kanalisation entsprachen der Wahrheit. Seit undenklichen Zeiten hausten riesige, Krankheiten übertragende Ratten in den Abflussrohren. Erst seit etwa fünf Jahren gediehen sie nicht mehr dort. Flagg hatte sie ausgerottet. Der Zauberer hatte ein Stück Stein und seinen Dolch beseitigt, indem er beides in einen ähnlichen Abfluss geworfen hatte wie den, aus dem Dennis an diesem frühen Sonntagmorgen gerade herausgekommen war. Natürlich hatte er sie loswerden müssen, weil sich an ihnen noch einige winzige Körnchen Drachensand befanden. Die Dämpfe dieser wenigen Körnchen
hatten die Ratten getötet, viele waren bei lebendigem Leibe verbrannt, während sie durch das Brackwasser in den Rohren paddelten, die anderen waren an den Dämpfen erstickt, bevor sie fliehen konnten. Fünf Jahre später waren die Ratten immer noch nicht zurückgekehrt, obwohl die giftigen Dämpfe sich größtenteils verzogen hatten. Die meisten, aber nicht alle. Wäre Dennis in eines der Abflussrohre eingedrungen, die sich näher bei den Quartieren des Hofzauberers befanden, so hätte auch er sterben können. Vielleicht hatte das Glück ihn gerettet oder das Schicksal oder die Götter, zu denen er betete; ich weiß es nicht. Ich erzähle Geschichten und lese nicht aus dem Kaffeesatz, und was das Thema von Dennis’ Überleben anbelangt, so möchte ich dies eurer eigenen Vorstellungskraft überlassen.
93
Er erreichte die Kreuzung, spähte um die Ecke und sah ein Stück weiter oben einen verschlafenen Wachsoldaten vorübergehen. Dennis wich zurück. Sein Herz schlug heftig, aber er war zufrieden - jetzt wusste er, wo er war. Als er wieder hinsah, war der Soldat verschwunden.
Dennis hastete nun den Korridor
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