Die Augen des Drachen - Roman
hatte schreiben sehen (das war beim Frühstück am Dienstag gewesen - der letzten richtigen Mahlzeit, die Dennis seit dem Mittagessen am Montag gehabt hatte, eine Mahlzeit, auf die er mit verständlicher Sehnsucht zurückblickte), hatte er ihm mehrere Blätter Papier und einen Bleistift überreicht. Die meiste Zeit, die
er in dem verlassenen Haus verbrachte, arbeitete Dennis mit großer Sorgfalt an einer Nachricht. Er schrieb, strich durch, schrieb erneut, runzelte beim Durchlesen schrecklich die Stirn, kratzte sich am Kopf, spitzte den Bleistift mit dem Messer und schrieb erneut. Er schämte sich seiner Rechtschreibung und hatte schreckliche Angst, etwas Entscheidendes zu vergessen, das Peyna ihm gesagt hatte. Mehrmals kam es so weit, dass sein armes gemartertes Hirn nicht mehr weiterwusste, und da wünschte er sich, Peyna wäre in der Nacht, als er zu ihm kam, eine Stunde länger aufgeblieben und hätte seine verdammte Nachricht selbst geschrieben oder sie Arlen diktiert. Im Grunde jedoch freute er sich über die Aufgabe. Er hatte sein ganzes Leben lang hart gearbeitet, und das Nichtstun machte ihn nervös und unbehaglich. Er hätte lieber mit seinem gewandten jungen Körper gearbeitet als mit seinem nicht ganz so gewandten jungen Gehirn, aber Arbeit war Arbeit, und er war froh, dass er welche hatte.
Am Samstagmittag hatte er den Brief fertig, mit dem er jetzt sogar sehr zufrieden war (und das war gut so, denn es blieben nur zwei Blätter übrig). Er betrachtete ihn voller Bewunderung. Das Blatt Papier war auf beiden Seiten beschrieben, und das war bei Weitem das Längste, das er jemals geschrieben hatte. Er faltete den Brief zu der Größe einer Tablette zusammen und sah wieder zum Wohnzimmerfenster hinaus. Er wartete ungeduldig darauf, dass es dunkel genug wurde, dass er aufbrechen konnte. Peter sah die aufziehenden Wolken durch das Fenster seines erbärmlichen Wohnzimmers in der Nadel, Dennis vom Wohnzimmerfenster des verlassenen Bauernhauses aus, aber beide hatten sie von ihren
Vätern - der eine König, der andere Kammerdiener dieses Königs - beigebracht bekommen, den Himmel zu lesen, und Dennis war ebenfalls der Überzeugung, dass es morgen schneien würde.
Um vier Uhr begannen lange blaue Schatten aus den Fundamenten des Hauses hervorzukriechen, und plötzlich brannte Dennis gar nicht mehr so sehr darauf zu gehen. Da draußen lauerten Gefahren … tödliche Gefahren. Er musste dorthin gehen, wo Flagg war, der vielleicht gerade in diesem Augenblick seine infernalischen Zaubereien ausheckte, vielleicht sogar einem gewissen kranken Kammerdiener nachspionierte. Aber eigentlich spielte es gar keine Rolle, was er empfand, und das wusste er - die Zeit war gekommen, seine Pflicht zu tun, und wie es jeder Diener seines Geschlechts seit vielen Jahrhunderten getan hatte, würde auch Dennis versuchen, sein Bestes zu tun.
Er verließ das Haus in der düsteren Stunde des Sonnenuntergangs, legte die Schneeschuhe an und machte sich querfeldein auf den direkten Weg zum Schloss. Der Gedanke an Wölfe schlich sich in seine ängstlichen Vorahnungen, aber er konnte nur hoffen, dass es keine gab, und wenn doch, dass sie ihn in Ruhe lassen würden. Er hatte keine Ahnung, dass Peter beschlossen hatte, seinen gefährlichen Fluchtversuch in der folgenden Nacht zu wagen, aber wie Peyna - und Peter selbst - verspürte auch er den Drang, sich zu sputen; er hatte den Eindruck, als würden Wolken nicht nur den Himmel bedecken wie Makrelenschuppen, sondern auch sein Herz.
Während er über die einsamen verschneiten Felder stapfte, überlegte sich Dennis, wie er ungesehen und unerkannt das Schloss betreten konnte. Er glaubte, es
schaffen zu können … das hieß, wenn Flagg ihn nicht witterte.
Er hatte kaum an den Namen des Zauberers gedacht, als ein Wolf über die weiße Einöde hinwegheulte. In einem dunklen Zimmer unter dem Schloss, Flaggs eigenem Wohnzimmer, schreckte der Zauberer im selben Augenblick hoch - er war in seinem Sessel eingenickt, ein Buch mit arkanen Zaubersprüchen offen auf seinem Bauch.
»Wer spricht den Namen Flagg aus?«, sagte er flüsternd, und der doppelköpfige Papagei kreischte.
Dennis, der auf einem flachen und einsamen, schneebedeckten Feld stand, hörte diese Stimme so trocken und verstohlen wie das Wuseln einer Spinne in seinem Kopf. Er blieb stehen und hielt den Atem an. Als er endlich wieder ausatmete, bildete sich eine weiße Wolke vor seinem Mund. Er fror erbärmlich, dennoch stand ihm der
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