Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
Vom Netzwerk:
beim Refrain angekommen war. Dennis ließ sich gegen die Wand der Nische sinken und schloss einen Augenblick lang erleichtert die Augen; Stirn und Wangen schienen zu brennen, seine Füße dagegen waren wie Eisklötze.
    Jetzt habe ich ein paar Minuten lang überhaupt nicht an meinen Bauch gedacht, dachte er, und dann musste er die Hände vor den Mund pressen, um ein Kichern zu unterdrücken.
    Er spähte aus seinem Versteck heraus, sah niemanden und ging auf eine Tür rechter Hand im Flur zu. Er kannte diese Tür ausgezeichnet, wenn auch der Schaukelstuhl und das Nähzeug davor neu für ihn waren. Die Tür führte in die Vorratskammer, wo alle Servietten aus der Zeit von Kyla der Gütigen aufbewahrt wurden. Sie war noch nie verschlossen gewesen und war es auch jetzt nicht. Alte Servietten waren es offenbar nicht wert, weggeschlossen zu werden. Er sah hinein und hoffte, dass die Antwort auf Peynas wichtigste Frage immer noch zutreffend war.
    Als sie an jenem strahlenden Morgen vor fünf Tagen auf der Straße standen, hatte Peyna ihn Folgendes gefragt: Weißt du, wann sie einen neuen Vorrat Servietten in die Nadel bringen, Dennis?
    Das schien Dennis wirklich eine leichte Frage zu sein,
aber euch ist vielleicht schon aufgefallen, dass alle Fragen leicht sind, wenn man die Antworten kennt, und schrecklich schwierig, wenn man sie nicht kennt. Dass Dennis die Antwort darauf wusste, war ein Beweis für seine Aufrichtigkeit und Ehre, wenngleich diese Eigenschaften so tief in seinem Charakter verwurzelt waren, dass es ihn überrascht hätte, wenn es ihm jemand gesagt hätte. Er hatte von Ben Staad Geld genommen - eigentlich war es ja Anders Peynas Geld gewesen -, um zu gewährleisten, dass die Servietten geliefert wurden. Sicher, nur einen Gulden, aber Geld war Geld und Bezahlung war Bezahlung. Seine Ehre hatte ihn dazu verpflichtet, sich von Zeit zu Zeit zu vergewissern, ob der Auftrag auch ausgeführt wurde.
    Er erzählte Peyna von dem großen Vorratsraum (Peyna konnte es kaum glauben, als er es hörte), und dass jeden Samstagabend gegen sieben eine Magd kam, einundzwanzig Servietten abzählte, sie ausschüttelte, bügelte, zusammenlegte und den ganzen Stapel auf ein kleines Rollwägelchen legte. Dieses Wägelchen stand direkt hinter der Tür der Kammer. Am frühen Sonntagmorgen, um sechs Uhr - also in ziemlich genau zwei Stunden - fuhr ein Dienerjunge das Wägelchen zum Platz der Nadel. Er würde an die Tür des hässlichen Steinturms klopfen, und einer der Unterwachmänner würde sie öffnen, das Wägelchen hineinrollen und die Servietten auf einen Tisch legen, von wo zu jeder Mahlzeit eine weggenommen wurde.
    Damit war Peyna zufrieden gewesen.
    Nun eilte Dennis weiter und suchte in seiner Tasche nach dem Brief, den er in dem Bauernhaus geschrieben hatte. Für einen schrecklichen Augenblick oder zwei
konnte er ihn nicht finden, aber dann schlossen sich seine Finger darum, und er seufzte erleichtert auf. Er war ein wenig zur Seite gerutscht gewesen.
    Er nahm die Serviette für das Sonntagsfrühstück. Sonntagsmittagessen. Beinahe hätte er die für das Sonntagabendessen auch zur Seite gelegt, und wenn er es getan hätte, würde meine Geschichte ein ganz anderes Ende finden - besser oder schlechter, das kann ich nicht sagen, aber ganz sicher anders. Letztlich kam Dennis jedoch zu dem Ergebnis, dass die dritte Serviette sicher genug war. In einer Ritze zwischen zwei Dielen im Wohnzimmer des Bauernhauses hatte Dennis eine Nadel gefunden und sie an einen Träger seines groben Leinenunterhemds gesteckt (und wenn er ein wenig mehr nachgedacht hätte, dann hätte er den Brief mit eben dieser Nadel an seinem Unterhemd festgesteckt, das hätte ihm die bangen Augenblicke erspart, als er ihn nicht gleich fand, aber ich habe euch ja vielleicht schon erzählt, dass Dennis’ Verstand manchmal ein wenig langsam war). Nun holte er die Nadel heraus und steckte den Zettel sorgfältig in eine innere Falte der Serviette.
    »Möget Ihr ihn finden, Peter«, murmelte er in der geisterhaften Stille der Vorratskammer, in der Servietten aus einem anderen Zeitalter gestapelt waren. »Möget Ihr ihn finden, mein König.«
    Dennis wusste, er musste nun schleunigst von der Bildfläche verschwinden. Bald würde das Schloss erwachen; Stallburschen würden zu den Stallungen stolpern, Wäscherinnen zu den Wäschereien gehen, Küchenjungen würden mit aufgequollenen Augen müde zu ihren Herden wanken (als er an die Küche dachte, fing Dennis’ Magen wieder

Weitere Kostenlose Bücher