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Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman

Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman

Titel: Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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Dort musste das Zusammenkommen je nach Format innerhalb von dreißig, fünfundvierzig, sechzig oder neunzig Minuten abgewickelt werden. Da Leoparden keine guten Schauspieler sind und sich weder ans Drehbuch halten noch kluge Sätze sagen, handelte es sich bei einem Tierfilm einzig um die Interpretation des Filmemachers. Der war seinem Produzenten eine Geschichte schuldig, auch wenn es im Tierreich vielleicht gerade keine gab. Jedenfalls hatte er davon gesprochen, dass alles zusammenkam.
    Herr Faustini ahnte, dass hinter den Weinbergen Edenkobens eine ganz andere Welt mit einer Unzahl von Trenchcoatträgern und Kleinbahnspezialisten lag, von denen keiner wie der andere war, doch jeder für sich auf den Augenblick wartete, dass alles zusammenkäme. Ein Hauch von der Unendlichkeit der Welt wehte den ans Kleinteilige gewohnten Herrn Faustini an und ließ ihn erschaudern. Wie konnte er erwarten, dass sich für ihn, den Unruhegeist, die Parallelen im Unendlichen berühren, dass die Dinge aus der Stille zu sprechen anheben, oder vielmehr im Lärm der Dinge die große Stille wachsen würde, die alles zur Ruhe brächte?
    Herr Faustini sah die Welt als ein Geflecht aus Namen vor sich, die sich langsam ineinanderdrehten, wobei für je einen Moment ein einzelner Name aufleuchtete. Zusammen bildeten alle Namen die große fließende Skulptur. Die Namen aller Lebenden, aber auch die aller Toten waren darin verzeichnet, Kaskaden von Namen im Fluss.
    Da brach in Herrn Faustini eine Schleuse. Jener Augenblick auf dem Rücksitz im Auto seines Vaters war wieder da.
    Er war sechs Jahre alt, als er, die Augen auf den Wagen vor ihnen an der Kreuzung geheftet, die Schönheit jeder Bewegung spürte, und darin eine Hitze von der Entdeckung der Schönheit der Welt. Er wusste nicht, wie ihm geschah, als er in den anfahrenden Autos zugleich das Herabstreifen der Blätter von einem Herbstbaum fühlte, zugleich auch das Lächeln seiner Mutter in ihm nachzitterte, das Rollen der Steine am Grund des braunen Flusses, der vom Frühsommerregen Hochwasser führte, zugleich das Aufgehen der Blüten im Stadtpark unter der warmen Junisonne, zugleich noch den Frost der rauhen Märznächte, und zugleich mit den durch ihn hindurchziehenden Bildern nahm er sich selbst, seine Mitte, als das Zentrum dieser Welt von Bildern wahr, und er selbst war der Behälter dieser Bilder, ihr Träger, ihre Kraftquelle. Er sah durch die Dinge hindurch, sah, dass jeder Mensch, ob mit Anzug und Krawatte, Aktentasche unterm Arm, oder einer von denen, die an der Bushaltestelle lungern, eine Flasche Fusel in der Hand, dass jedes Lebewesen ein Geheimnis barg, und dieses Geheimnis lag offen zu Tage: Jedes Lebewesen war ein Schrei nach Vollendung, nach Verwandlung.
    Er spürte auch den Körper des Mannes, der er einmal sein würde, spürte für die Dauer eines hellen Aufleuchtens die Kraft und die Zuversicht dieses Körpers. Er hörte die Welt. Er hörte das Rattern von Nähmaschinen in einem stickigen Saal in China, er sah tausend Hände, wie sie die Naht unter der Nähnadel führten; er hörte das Knirschen einer Bohrraupe tief im Erdinneren unterm Nordmeer; er hörte das rhythmische Hämmern der Dampframmen, die mit ihren Stützpfeilern im lehmigen Boden der Flussebenen nach Halt suchten; er hörte das Knacken zweier Baumstämme, die im Sturm gegeneinanderrieben; er hörte den Gesang der Wale weit draußen im schwarzdunklen Meer, und er war klein vor all den Bildern, doch die Bilder waren in ihm, und er selbst war alle diese Bilder, und zum ersten Mal erbebte die Welt in ihm.
    Herr Faustini hatte diesen Augenblick verschüttet in sich getragen, dieses Versprechen der Welt über Jahre nicht mehr geahnt.
    Er war allzu lange im Kreis gelaufen, getrabt wie ein Hamster im großen Rad, ohne dass sich je Sinn oder Lösung abgezeichnet hätten. Die Hamsterradjahre waren vorbei, und er war hier geradeso gut wie in jedem anderen Teil der Welt frei. Er fühlte etwas von einer alten Kraft durch sich hindurchfließen. Auf also!
    An einem Tisch vor der Konditorei Schluckebier saßen zwei verlorene Damen mit grauem Haar vor ihrer Käse-Sahne-Torte. Eine der beiden hatte ein blutunterlaufenes Auge und tiefe rote Augenringe. Wahrscheinlich hatte sie Probleme mit ihrem Blutverdünnungsmittel. Die andere saß sehr aufrecht in ihrem Sessel, drehte den Kopf wie ein scheuer Vogel nach Herrn Faustini, der langsam die Fußgängerzone entlangstrich, vorbei an einem 1-Euro-Laden, einem Fotogeschäft mit dem

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