Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman
Föhn- und Dauerwellenfoto eines Hochzeitspaares im Schaufenster. Die Auslagen der Geschäfte wirkten wie Sprungfedern, mit deren Hilfe sich Herr Faustini abstieß, um aus der Grauzone herauszukommen.
Er ging zurück zum Bahnhof und bestieg den ersten Zug nach Speyer, denn dieser Name klang in ihm so mittelalterlich nach, dass ihm warm wurde. Zu Speyer gab es den berühmten romanischen Dom, und er wollte keinen Tag mehr versäumen, ihn zu sehen. In Speyer angekommen, ging er die breite Fußgängerzone auf den Dom zu, die wie überall in diesem Land von Schlecker und Nordsee und Tchibo und einem halben Dutzend Apotheken flankiert wurde.
Er war überrascht, wie hell der Dom im Innern war. Er hatte ihn düster erwartet wie die kalten gotischen Kirchen, die er kannte. Dieser Dom beherbergte noch nach tausend Jahren eine eigene Wärme in seinem rotgrauen Stein. Der Stein schien leicht, das Kirchenschiff geflutet von einer Helligkeit, die von namenlosen Winden herrührte, die als Gesäuse, als Wispern, als Flüstern und Murmeln über den Schauenden stand, sich deren staunende Münder lieh. Die Winde waren es, die Herrn Faustini aus dem Dom flüsterten. Er folgte dem Gesäuse in seinem Ohr, durchquerte einen Park und sah durch die Bäume das Wasser des Flusses blinken.
Ein Kohleschiff schob sich mit schwerem Dröhnen flussaufwärts. Herr Faustini war mit einem Mal wieder auf dem Boden. Er befand sich an einer der großen Wasserstraßen Europas. Gerade dort, wo er stand, waren seit Jahrtausenden Flussschiffer vorbeigezogen mit ihren Waren, und Menschen auf der Suche nach einer neuen Heimat, die über die dichtstehenden Wälder nur beschwerlich zu erreichen war. Herr Faustini ging den Uferweg flussabwärts entlang. Flussabwärts bedeutete Norden, und Norden bedeutete, dass er, ginge er immer weiter, irgendwann an Koblenz und Köln vorbei in Rotterdam das Nordmeer erreichen würde. Was für Namen für das Namenlose! Wurde der Riesenkalamar, den es, so wollten es die Legenden seit Urzeiten, da draußen tief im Weltmeer geben musste, fassbar, indem man ihm einen Namen gab? War der große Fluss, an dessen Ufer Herr Faustini als Zwerg ging, nicht ein Fluss ohne Namen, ein Niemands-Fluss, der die vielen Schiffe, die ihn hinauf- und hinabfuhren, klaglos trug, obgleich sein Wasser niemals dasselbe war?
Vom Bug des Kohleschiffs mit ihm unbekannter Flagge winkte ein kleiner Bub herüber, die andere Hand am Hals seines Hundes, der stolz aufgerichtet wie eine Galionsfigur auf dem vordersten Schiffsteil thronte. Herr Faustini winkte zurück, bis der Bub mit seinem Hund in dem eigenen Licht, das sich über das Wasser spannte, aufgingen. Er folgte dem Fluss, und wenn er aufs Wasser sah, war ihm, als fliege er dahin. Nach Stunden schien die Welt nichts als Fluss zu sein, fließendes Jetzt und Jetzt. Herr Faustini erreichte einen Landesteg, an dem das Schiff Rheingold lag. Das Deck war mit bunten Lämpchen geschmückt, ein älteres Paar stand an der Reling und hielt sich bei der Hand. Dieses Bild gefiel Herrn Faustini, und er sah etwas länger hinüber zu den beiden, als es höflich war. Da hob die Frau ihren Arm und winkte Herrn Faustini herbei. Ja, sie winkte nicht bloß so, wie man eben von Schiffen aus denen am Land zuwinkt. Herr Faustini blickte hinter sich, da war niemand. Er zeigte auf sich wie ein Pantomime, die Frau nickte und rief Jaja herüber. Ach kommen Sie doch!, glaubte Herr Faustini zu verstehen. Vom stundenlangen Gehen am Fluss waren Herrn Faustinis Vorbehalte gegen die Kaffeeflussschiffahrt wie weggeblasen. Außerdem hatte er Hunger. Auf so einem Schiff gab es bestimmt etwas zu essen. Er betrat den Landesteg, die Frau winkte noch immer, und auch ihr Begleiter machte eine freundliche Miene. Herr Faustini betrat tatsächlich das Schiff.
Eine Stunde später saß er mit Herrn und Frau van der Hooch bei einem Glas Wein am Tisch. Herr und Frau van der Hooch unternahmen eine kleine Rheinschiffsreise zur goldenen Hochzeit.
Das kann unmöglich sein, sagte Herr Faustini, Sie sind beide noch so jugendlich.
Den van der Hoochs stieg simultan ein wenig Röte vom Wein in die Wangen.
Sie Schwindler Sie, meinte Frau van der Hooch, wir sind alte Knacker und das sieht man auch! Aber ein so charmantes Kompliment ist uns stets willkommen, nicht wahr, Cees?
Herr van der Hooch nickte strahlend und legte den Arm um seine Frau. Vor dem Fenster kämpfte sich ein Kohleschiff flussaufwärts, und einen Augenblick später schaukelte die
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