Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman
sich hinter meinem Rücken wieder an, der Dreck. Haben Sie seinen Mantelkragen gesehen? Haben Sie ihn genau angesehen? Herr Faustini wirkte nicht so, als hätte er. Nein, haben Sie bestimmt nicht, sagte sie. Umso besser, denn wie oft sag ich ihm, dieser Mantel ist nicht mehr zu reinigen. Der Kragen steht vor Dreck und ist nicht mehr zu reinigen. Wie oft hab ich den geputzt, wie oft hab ich ihn in die chemische Reinigung gebracht. Nichts zu machen. Sagen die in der Reinigung auch. Ihm ist das egal. Er sieht den Dreck nicht. So einfach ist das. Manchmal denke ich, er hat’s besser. Wie einfach muss alles sein, wenn man den Dreck nicht sieht. Kein Dreck, kein Problem. Aber er hat ja sein Einkaufszentrum. Seit Jahren gibt’s bei ihm nichts als das Einkaufszentrum. Dann trampelt er durchs Haus mit einer Herde von Milben an den Sohlen, Treppe rauf, Treppe runter, rennt in alle Räume, damit die Viecher überall gut verteilt werden, und liest mir ein Schreiben von irgendeinem Amt vor, in dem es um Baugenehmigung und Wasserschutz und Anlieferungszeiten geht. Seit Jahren nichts anderes. Fragen Sie ihn doch mal, wie es ihm geht! Er wird nicht sagen gut oder schlecht wie andere Leute, er wird sagen, die haben mir gestern geschrieben, dass von behördlicher Seite blablabla. Sie schwieg einen Augenblick und sah traurig zu Boden. Ohne den Blick zu heben, murmelte sie: Wissen Sie ein Mittel gegen den Dreck? Ich meine, können Sie mir einen Tipp geben?
Die düsteren Fassaden der Häuser in der Fußgängerzone öffneten Lücken, in denen neben der Anmut auch die Stunden verschwanden wie vom Erdboden verschluckt. Diese Stadt schien ihre Zeit hinter sich zu haben, stand nun dem Wind preisgegeben wie auf luftigem Gestell. So viel Vergangenheit stand da noch ungenützt in der Gegend herum, dass Herrn Faustini manchmal war, als könne er auf Schritt und Tritt in einem Zeitloch verschwinden. In den Geschäften hörte er den Singsang, den man hier als Sprache kultivierte, klagende, krächzende, scharrende Laute, die Herrn Faustini von ihrer Zungenschwere her ein wenig an seine Heimat erinnerten, in der die Zungen je nach Dorf schwer und immer schwerer waren.
Herr Faustini ließ sich treiben, vorbei an den Schaufenstern von Billigläden, seine Füße schienen im Leeren zu gehen. Er war gewichtslos, konnte es sein, dass er im Innern eines Zeitlochs trudelte, und der Boden, auf dem er ging, war nur eine Illusion? Er befahl seinen Füßen stehen zu bleiben, und sie taten es. Er stand möglicherweise etwas schräg in der Welt, es war auch denkbar, dass er sich selbst bloß träumte. Jedenfalls war es seinen Füßen recht stillzustehen. Sie standen still und nichts geschah. Einen langen Moment, vielleicht auch viele lange Momente später hörte Herr Faustini eine Stimme.
Gehen Sie doch mal beiseite, sagte eine ungeduldige Stimme in Faustinis Rücken, als verhindere der seit Jahren den freien Zugang zu einem überlebenswichtigen Ort. Da war wieder einer dieser Sätze, die im deutschen Lande frei und sorglos durch die Menschenwelt drifteten, als gehörten sie niemandem an, als seien sie nur so auf Verdacht hingesprochen. Irgendwo würden die stets hart am Befehlston gesprochenen Sätze schon ankommen. Wer sie auf sich bezog, der hatte wohl Grund dazu. So waren sie also nicht umsonst gesagt. Und da nichts auf der Welt verloren geht, erwischte am Ende jeder den Satz, den er verdiente. Herr Faustini drehte sich um. Ein weißbärtiger Oberstudienrat sah in seiner Eigenschaft als Kulturtourist streng zu Herrn Faustini herüber, denn dieser hielt sich vor einem stillgelegten Brunnen auf, der einen nackten Bronzeknaben mit eingeknickten Knien beim Wasserlassen zeigte. Befand sich Herr Faustini etwa vor einer Kopie des Brüsseler Manneken Pis, der dort für alle Zeiten den Brunnen wässerte? Da kein Wasser floss, war Herrn Faustini nicht aufgefallen, dass er ein Kulturdenkmal mit seiner Gegenwart verstellte. Höflich trat er beiseite, und der mürrische Kulturtourist drückte auf den Auslöser, nicht ohne zuvor seine Frau zur Dekoration vor den Pinkelknaben gehetzt zu haben.
Anstelle des plätschernden Wassers hörte Herr Faustini nun einen Satz, den er im Frühstücksraum des Gästehauses Eden aufgeschnappt hatte: Eines Tages kam alles zusammen, sagte der Sprecher eines Dokumentarfilms über die Kalahari. Wir begegneten zuerst einer Antilopenherde, dann einem Blessbock.
Sogar im Fernsehen kannten sie das Verlangen danach, dass alles zusammenkäme.
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