Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman
es nicht bleiben. Denn es ist der Name einer Suche, auf die mich Frau Nussbächle schickt, die selbst übrigens in den Urlaub gefahren ist, als ginge sie das alles gar nichts an. Aber, Frau Robatscher, ich habe ganz vergessen Sie zu fragen, wie es Ihnen denn erging seit unserem letzten Busgespräch. Haben Sie viele Beratungsgespräche geführt seitdem? Und haben Sie in einem der Beratungsgespräche auch von sich sprechen können, oder etwas wiedergefunden, was Ihnen für Ihr eigenes Leben außerhalb der Beratungen dienlich war? Oder ist Ihnen diese Frage zu persönlich? Mir selber ist, seltsam, mit Ihnen, Frau Robatscher, nichts zu persönlich, weder damals beim Busgespräch noch heute, beim Edenkobengespräch. Ich finde es ganz außerordentlich schön, dass ich meine Zugberatung bei Ihnen persönlich haben darf. Weil wenn ich denke, was alles passiert ist seit unserem Busgespräch, da werde ich ganz nachdenklich, ja ...
Herr Faustini, sagte Frau Robatscher, ich freue mich auch sehr, dass wir wieder miteinander gesprochen haben. Aber meine Beratungseinheit pro Kunde ist zeitlich limitiert. Wenn ich das Zeitlimit zu oft überschreite, findet eine Überprüfung statt und bei der nächsten Evaluierung riskiere ich ...
Oh Gott, liebe Frau Robatscher, rief Herr Faustini, vor lauter Freude und Blödheit gefährde ich Ihre Arbeitsstelle! Dabei will ich gerade das Gegenteil! Ich werde den Österreichischen Bundesbahnen einen Brief schreiben, in dem ich Ihre Leistungen ganz besonders hervorheben will, ja. Das liegt mir am Herzen, das werde ich sofort nach unserem Gespräch tun und bevor ich mich auf die Suche mache.
Nicht nötig, Herr Faustini, wirklich nicht, sagte Frau Robatscher.
Oh doch, liebe Frau Robatscher, das ist sehr nötig. Das ist so eine Sache, für die man einstehen muss im Leben, denn man sollte wissen, wofür man einsteht im Leben, und das ist so eine Sache. Ja, unser Busgespräch und die viele Zeit, die Sie sich für mich nehmen, das ist so eine Sache. Dafür stehe ich ein und das werde ich den Österreichischen Bundesbahnen schreiben, ganz persönlich und direkt.
4
Am nächsten Morgen rollte Herr Faustini im Zug auf die Lindauer Insel, was ihn in Feststimmung versetzte, so feierlich war es, auf dem schmalen Landsteg aufs Wasser zu fahren, als hätte der Zug Flügel. Als der Zug später in umgekehrter Richtung zurück aufs Festland rollte, verabschiedete sich Herr Faustini mit einem ausgedehnten Blick vom See, denn er wusste nicht, wie lange er auf Reisen sein würde. Und er bemerkte, dass er tatsächlich unterwegs war. Seine Reise auf der Suche nach dem Augenblick, in dem alles zusammenkommt, fand also nicht nur in Gedanken statt. Das war im Sinne der Besuche bei Angela Nussbächle ein ernstzunehmender Fortschritt.
So schlängelte sich der Zug vorbei an den Obstbaumkulturen des seenahen Hinterlands und bald durch weniger malerische offene Fluren.
Nach einiger Zeit im Zug fiel Herrn Faustini auf, dass er sich selbst weder beobachtete noch kommentierte. Ein zufriedenes Lächeln huschte über seine Lippen. Beim Umsteigen in Ulm war er ganz bei der Sache. Im ICE saß er am Fenster und staunte, wie rasch die Landschaft vorbeiflog. Er staunte auch darüber, wie zielstrebig der Zug voranbrauste. Der Zug kannte kein vielleicht oder lieber doch nicht, kein Mäandern, kein Zögern und kein Zurück. Verkörperte der Hochgeschwindigkeitszug also die Lösung aller Scheinprobleme? Sollte er am besten gar nicht mehr aussteigen und wenn, dann nur, um mit dem nächsten Zug durch die Lande zu jagen? Das wäre zweifellos ein mögliches Leben, an das er bislang nicht gedacht hatte. Ein Netzkartenleben immer in Bewegung, unterbrochen von einem kleinen Schläfchen in den Bahnhofhotels Deutschlands, vielleicht sogar ganz Europas? Zu Hause wartete nur der Kater, der bei Frau Gigele Fünf-Sterne-Betreuung genoss. Würde es in einem Netzkartenleben außer der Zeit des Fahrplans noch den Augenblick geben? Die Zeit, die immerzu nachwuchs, würde sich in einem Netzkartenleben ordnungsgemäß nach Fahrplan abrollen. Aber wo würden in der sich von selbst abrollenden Zeit die Augenblicke bleiben?
Beim Blick auf die vor dem Fenster vorbeifliehende Landschaft begriff Herr Faustini, dass die beschleunigte Zeit des Hochgeschwindigkeitszuges nicht die seine sein konnte. Wessen Zeit war die der fliehenden Landschaft wohl? Sie schien zusammenzuschrumpfen zu einer kleinen Zeitkugel, die gleich einer wild gewordenen Flipperkugel durch die
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