Die Auserwählte: Roman (German Edition)
abgefunden zu haben, dass sie womöglich im Weißen Zelt verbrennen würden – dass sie den Tod finden würden, bevor die Welt von ihrem wütenden, pessimistischen Gott zerstört werden konnte.
Der einzige Jünger, der alles andere als zufrieden damit zu sein schien, gemeinsam mit seinen Gefährten den Flammentod zu sterben, war der Dealer. Seine Lippen und seine Lider waren verzerrt, sodass es den Anschein hatte, als bestünde er nur aus Zähnen und Augen. Doch er konnte nicht das Weite suchen, auch wenn er gewollt hätte: Wie wir war er eingekreist.
Im Zelt bildeten sich graue Wolkenmassen. Man hätte meinen können, dass es sich um Rauch von den brennenden Zeltwänden handelte, doch dem war nicht so. Es handelte sich um die Feuchtigkeit in der Luft, die zu Wolken kondensierte.
In der Nähe des Eingangs zum Weißen Zelt entstand ein Tumult. Ich sah, wie der neandertalerähnliche Jünger vom Vorabend jemanden schubste und irgendetwas brüllte. Allerdings war er der einzige Jünger, der nicht Hand in Hand mit den Übrigen dastand, und keiner der anderen wollte Prophet den Gehorsam verweigern und Neandertaler zu Hilfe eilen. Neandertaler wurde beiseitegestoßen, und Neuankömmlinge strömten ins Zelt. Keine Jünger.
Herein kamen sie, Dutzende Suchende mit ihren roten Umhängen und ausdruckslosen schwarzen Masken. Sie boten einen Furcht einflößenden Anblick, als sie über den Sand schritten, doch die Jünger ließen einander nicht los, und die in Weiß Gekleideten waren den in Rot Gekleideten zahlenmäßig weit überlegen. Es erschienen jedoch immer mehr Suchende, bis sie schließlich ihren eigenen roten Kreis um die weißen Massen bildeten.
Wo war Parker? Ich hoffte, dass er sich außerhalb der lodernden Wände des Weißen Zelts in Sicherheit befand, falls es überhaupt noch irgendwo sicher war.
Dann erhob einer der Suchenden die Stimme und verschaffte sich über das Prasseln der Flammen hinweg Gehör. Ich erkannte das kaltschnäuzige Knurren sofort, trotz der schwarzen Maske, die sein Gesicht verbarg.
»Lassen Sie Ihre Jünger frei, falscher Prophet!«, rief Mr Kale. »Das Spiel ist aus!«
Prophet lächelte nur. »Ihr Glaube ist unerschütterlich. Sie wissen, dass ich ein wahrer Prophet Gottes bin.«
Mr Kale trat daraufhin aus dem Kreis der Suchenden, und die beiden Suchenden zu seiner Linken und Rechten legten ihm eine Hand auf die Schulter. Die Energie im Zelt ließ meine Haut vibrieren. Die Suchenden schienen ein unheimliches rötliches Glühen auszustrahlen, das ich nur sah, wenn ich nicht gezielt danach Ausschau hielt. Doch aus dem Augenwinkel nahm ich es wahr.
Ein nervöses Murmeln ging durch die Schar von Jüngern.
Mr Kale legte zwei Jüngern jeweils eine Hand auf den Kopf. Prophet schien zu ahnen, dass etwas geschah, das nicht zu seinem Plan gehörte. Sein Lächeln bestand jetzt nur noch aus zusammengebissenen Zähnen.
»Nennen wir das einen Test ihres Glaubens«, rief Mr Kale, und seine Finger schlossen sich fest um die Köpfe der beiden Jünger. Sie sträubten sich, wollten sich losreißen, doch Mr Kale hielt sie fest. Das glühend rote Licht, das die Suchenden ausstrahlten, intensivierte sich für einen kurzen Augenblick, und plötzlich pulsierte dasselbe Licht unter Mr Kales Händen. Sämtliche Jünger, die den äußeren Ring bildeten – nicht nur die beiden, auf deren Köpfen Mr Kales Handflächen ruhten –, krümmten sich und schrien auf. Ein paar von ihnen stießen derart gellend gequälte Schreie aus, dass ich mir die Ohren zuhalten musste.
Schließlich ließen die Jünger im äußeren Ring ihre Hände los. Sie blickten einander verwirrt an und sahen, wie die Flammen die Zeltwände verschlangen.
Dann rannten sie los.
»Der Glaube Ihrer Jünger ist nicht so stark, wie Sie denken!«, rief Mr Kale Prophet zu. »Ich werde Ihnen das Handwerk legen.«
Mr Kale packte zwei weitere Köpfe, tat dasselbe wie zuvor und sprengte einen weiteren Ring von Jüngern. Jetzt blieben nur noch etwa fünfzig Reihen. Mir war nicht klar, ob Mr Kale Prophets Einfluss auf die Jünger stoppte oder ob er ihnen einfach befahl, das zu tun, was sie vermutlich insgeheim ohnehin tun wollten, nämlich aus der brennenden Todesfalle zu fliehen. Eigentlich war es mir auch egal, solange er sich beeilte. Flammen wanderten an den Zeltwänden hinauf, und die Luft war schwarz vor Rauch und Kondenswasserwolken. Ich konnte die Suchenden kaum noch sehen. Doch während die Wolken aufstiegen und das Zeltdach durchdrangen, war
Weitere Kostenlose Bücher