Die Auserwählte: Roman (German Edition)
die Narben in ihrem Gesicht waren beinahe unsichtbar. Sie schloss die Augen, legte den Kopf auf Prophets Schulter und ließ sich von ihm führen.
Jeremy und ich schritten nach Mom und Prophet voran. Die übrigen Apostel folgten uns in Zweierreihen, Iris und Ivan unmittelbar hinter Jeremy und mir. Ich spürte Iris’ wütenden Blick im Rücken, der wie ein Laserstrahl versuchte, Löcher in mich zu brennen.
Vor uns füllte sich Prophets Weißes Zelt bereits mit seinen Jüngern. Er hatte ein letztes Mal Die Stunde des Lichts präsentiert und im Fernsehen seine Heiratspläne verkündet. Jeder Jünger aus Los Angeles würde heute Abend hier sein. Auch das gehörte zu Prophets Plan.
Ich erinnerte mich, was Parker mir über religiösen Mystizismus erzählt hatte, über afrikanische Rituale, die Regen während einer Dürre brachten, und dass angeblich Wunder geschehen können, wenn man genug Menschen versammelte, die alle an dasselbe glauben. Dass es dabei um Energie und Konzentration ginge und darum, ein kollektives Gewissen zu schaffen. Was würde passieren, wenn man Tausende Menschen an einem Ort versammelte, die alle mithilfe von Gehirnwäsche glauben gemacht wurden, dass ein Unwetter kommen und die Welt untergehen werde? Und was würde passieren, wenn einige von diesen Menschen über eine gewisse mystische Kraft verfügten, über eine besondere Energie? Was dann? Würde ein Wunder geschehen? Würden sie durch Gedanken und Energie und Entschlossenheit die Zukunft erschaffen, an die sie glaubten?
Ich war kurz davor, es herauszufinden.
Obwohl unzählige Blicke auf mir ruhten, hatte ich das Gefühl, von einem ganz besonders beobachtet zu werden, und spürte ein Kribbeln. Ich suchte die Menge ab und entdeckte das Gesicht eines Jungen, der mich aus einem der Zelte anstarrte. Ein Gesicht, das von blondem Haar eingerahmt war.
Der Junge nickte mir zu.
Ich wandte den Blick ab, bevor jemand bemerkte, wohin ich schaute.
Vermutlich hätte es mich nicht überraschen sollen, dass er hier aufgetaucht war. Parker würde sich Moms Hochzeit nicht entgehen lassen. Um nichts in der Welt.
38
D as Weiße Zelt war bereits proppenvoll, als wir es betraten. Ein Raunen ging durch die Menge, und die Jünger teilten sich und bildeten eine Gasse zur erhöhten Plattform in der Mitte des Zelts.
Am heutigen Abend war den Medien der Zutritt verwehrt worden, doch der Pianist war anwesend, und die Musik hatte schon begonnen. Ich ertappte mich dabei, dass ich den Takt aufnahm und wie eine Brautjungfer dahinschritt. Ich setzte einen heiteren Gesichtsausdruck auf, als ich die Jünger um mich ansah, lächelte und nickte ihnen zu und spielte den von Gott auserwählten Apostel. Irgendwann fiel mein Blick auf Rachel und ihre Jünger-Clique von der Skyline-Highschool. Rachel hatte sich für den heutigen Anlass das Haar besonders streng nach hinten gebunden, was ihre Glupschaugen hervortreten ließ wie bei einem Mops. Als sie mich in der Hochzeitsgesellschaft entdeckte, wurden ihre Augen noch größer. Ich zeigte ihr eine Menge Zähne, lächelte jedoch nicht.
»Herzlichen Glückwunsch an dich und deine Mutter«, flüsterte eine Fistelstimme nahe an meinem Ohr. Mein Kopf fuhr herum, und das Gesicht des Dealers war so nahe vor meinem, dass ich seinen Atem schmecken konnte.
Ich zuckte zurück, und mein Herz hämmerte. Jeremy nahm mich am Ellbogen, schob mich weiter und beobachtete den Dealer, als wäre er eine Schlange, deren Zähne entfernt worden waren, die aber trotzdem Möglichkeiten fand, um ihr Gift abzusondern.
Wir erklommen die Stufen, die auf die Plattform führten. Prophet flüsterte Mom irgendetwas zu, und sie nickte und geleitete ihn zum Mikrofon. Wie eine Schar Vögel, die Formation annehmen, bildeten die Apostel hinter Prophet und Mom einen Halbkreis, die Jungen auf der einen Seite, die Mädchen auf der anderen. Jeremy und ich waren gezwungen, uns zu trennen, damit er neben Prophet stehen konnte und ich neben Mom. Der Trauzeuge und die Trauzeugin. Mir wurde bewusst, dass ich mit den Aposteln noch immer auf dieselbe Weise verbunden war, wie die Suchenden miteinander verbunden waren: als Leiter der Energie der anderen. Wenn wir zusammen waren, bewegten wir uns wie eine Person. Was auch immer Prophet mit uns gemacht hatte, verband uns miteinander, und diese Verbindung war nicht in dem Augenblick durchtrennt worden, als seine Gehirnwäsche geendet hatte. Ich fragte mich, ob die Verbindung womöglich dauerhaft war. Diese Vorstellung gefiel mir
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