Die Auserwählte: Roman (German Edition)
allein. Die Meute umzingelte mich mit Hass in den Augen. Hass und Furcht.
»Sie sind böse«, sagte der große Mann, als er nur noch ein kleines Stück von mir entfernt war. »Sie haben dieses Mädchen getötet. Sie sind böse .« Sein Tonfall war neutral – nicht vorwurfsvoll, sondern völlig sachlich. Jeder wusste es. Ich war böse. Ich war eine Mörderin.
Ein Monster.
Der große Mann streckte die Hand nach mir aus. Ich wusste nicht, was er vorhatte, ob er mich über die Brüstung der Brücke werfen, mich würgen oder mich schlagen wollte. Ich wusste nur, dass er mir wehtun wollte. Also musste ich mich schützen. Ich hob die Hände, die Handflächen auf ihn gerichtet. Ich trug wie immer meine fingerlosen Handschuhe, aber durch meine Hände flutete eine solche Hitze, dass meine Handschuhe rauchten, auseinanderfielen, sich in Asche verwandelten und zu Boden rieselten. In der einen Sekunde rauchten meine Hände, und in der nächsten schossen rote Lichtadern aus meinen Fingerspitzen und erfassten den Mann. Er erstarrte. Und dann begann sein ganzer Körper zu zucken.
Die Menge wich zurück. Wieder ertönte Geschrei, diesmal klang es jedoch verunsichert. Eher verängstigt als wütend.
Die Haut des Mannes fing zu rauchen an, und er verströmte einen Geruch wie schmorende Kabel und garendes Fleisch.
Hör auf! , flehte eine Stimme in meinem Kopf. Hör auf! Du tötest ihn!
Es war seltsam. Bevor diese Stimme ertönte, war mir nicht bewusst gewesen, dass ich dem Mann Schmerzen zufügte. Ich sah die roten Lichtadern aus meinen Fingerspitzen sprießen, die mich mit ihm wie ein Starterkabel verbanden, erkannte den Zusammenhang jedoch nicht. Etwas wie das war noch nie zuvor passiert.
Doch es passierte.
Ich verabreichte dem Mann einen Stromschlag. Ich verschmorte ihn.
In mir war ein Blitz, den ich in ihn einschlagen ließ.
Ich war dabei, ihn zu töten.
Hör auf!
Ich spürte einen Ruck, als hätte jemand ein gespanntes Seil durchtrennt. Die roten Lichtadern zogen sich in meine Fingerspitzen zurück, und der Mann sackte zu einem rauchenden Haufen zusammen.
Ich warf einen Blick in die Menge, wartete darauf, dass sie über mich herfiel, mich über die Brüstung der Brücke warf. Und dieses Mal würde ich mich nicht zur Wehr setzen. Würde nicht versuchen, mich zu schützen. Ich hatte die Bestrafung verdient, die sie mir verabreichen würden, wie auch immer sie aussah. Der Mann hatte Recht. Ich war böse.
Mein Blick wanderte zu Janna. Ich sah, dass sie sich bewegte, dass sie sich aufsetzen wollte, und eine Woge der Erleichterung überkam mich. Sie war am Leben.
»Ich wollte ihr nicht wehtun«, sagte ich den Anwesenden.
Schweigen war alles, was ich von ihnen als Antwort bekam, doch ihre Anklage war laut wie ein Dutzend Sirenen.
Oder handelte es sich um echte Sirenen?
Blinklicht.
Polizei.
Mein Selbsterhaltungstrieb meldete sich lautstark zurück.
Niemand versuchte, mich aufzuhalten, als ich von der London Bridge rannte. Und als die Meute anrückte, um die Familie Price aus Lake Havasu City zu vertreiben, hatten wir bereits das Weite gesucht.
Eine Woche später kamen wir in Los Angeles an, wohin wir Moms Ansicht nach sofort nach dem Tod ihrer Mutter hätten ziehen sollen. Los Angeles, wo es einem bekannten Song zufolge niemals regnete.
Mom ließ unseren Nachnamen ändern, falls jemand beschließen sollte, nach uns zu suchen.
Ich trug eine Perücke, um meine Kahlköpfigkeit zu verbergen. Blitze verwandelten mein Haar nicht immer in Asche, wie es dieses Mal geschehen war. Mir war es fast lieber, wenn ein Blitz mein Herz zum Stillstand brachte, anstatt mir mein Haar zu rauben.
Parker und ich meldeten uns an der Skyline-Highschool an. Ich bemühte mich, mich von dem abzulenken, was ich Janna und dem Mann auf der Brücke angetan hatte, und von dem, was ich erfuhr, als ich auf dem Weg nach Los Angeles im Krankenhaus anrief.
Ich wählte die Nummer der Telefonauskunft und ließ mich mit dem Krankenhaus in Lake Havasu City verbinden. Ich fragte nach Janna Scotts Zimmer. Janna nahm ab. Ich erkannte ihre Stimme nicht, da ich sie bislang noch nie gehört hatte.
»Es tut mir so leid«, flüsterte ich. Tränen strömten mir übers Gesicht.
»Mia«, sagte sie. »Bist du es?«
Dann wurde es mir plötzlich bewusst … Sie sprach. Jetzt war ich diejenige, die kein Wort herausbrachte.
»Mir geht es wieder gut«, sagte sie.
»Nein, das stimmt nicht.« Ich erstickte an einem Schluchzer. »Ich habe gesehen, was ich dir angetan
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