Die Auserwählte: Roman (German Edition)
unwohl. Sie bezeichneten sie als behindert, aber genau genommen wirkte sie nur verloren.
Aus irgendeinem Grund fand Janna Gefallen an mir. Vielleicht spürte sie, dass ich ebenfalls eine Außenseiterin war, und hatte das Gefühl, ich würde sie akzeptieren. Und das tat ich auch. Die Leute in Lake Havasu City kannten mein kleines Problem und gingen mir aus dem Weg. Jeder, der auch nur ein bisschen etwas über Blitze weiß, ist sich darüber im Klaren, dass man nicht neben einem Baum stehen sollte, wenn dieser getroffen wird, und dasselbe gilt auch für mich.
Doch die Verletzungen, die Jannas Gehirn davongetragen hatte, mussten ihren Selbsterhaltungstrieb ausgelöscht haben. Ihre Eltern warnten sie, dass sie sich von mir fernhalten solle, doch sie tauchte trotzdem immer wieder vor meiner Tür auf.
An dem Tag, als ich das letzte Mal vom Blitz getroffen wurde, war der Himmel vollkommen klar. Es war ein Samstag. Ich hatte mir die Wettervorhersage angesehen und war zu dem Schluss gekommen, dass die Regenwahrscheinlichkeit gleich null war und ich kein Risiko einging, wenn ich das Haus verließ.
Als ich vor die Tür trat, saß Janna auf der Veranda, starrte in die Ferne und lächelte aus keinem ersichtlichen Grund vor sich hin. Ich fragte sie, ob sie ein bisschen spazieren gehen wolle, und sie nickte. Janna liebte es, spazieren zu gehen, mehr als alles andere. An manchen Tagen marschierte sie von einem Ende der Stadt zum anderen und wieder zurück, ohne eine Pause einzulegen und ohne ein Wort zu sprechen.
Also machten wir uns auf den Weg. Wir beschlossen, zur London Bridge zu gehen, die tatsächlich ursprünglich in London errichtet und anschließend von einem reichen Amerikaner gekauft worden war. Er hatte sie zerlegen und in Einzelteilen nach Lake Havasu City transportieren lassen, wo sie als Touristenattraktion diente. Dieser große, alte Brocken Londons mitten in Arizona war einer meiner Lieblingsplätze.
Janna und ich standen auf der Brücke, spähten über die Brüstung und betrachteten die Schiffe, die unter ihr hindurchfuhren, als ich plötzlich ein intensives Kribbeln auf meiner Haut spürte. Ich blickte auf und sah sie: eine schwere Wolke, die sich genau über der Brücke bildete und sich am Himmel ausdehnte wie ein Tropfen Tinte, der in ein Glas Wasser fällt.
Alles ging schnell.
Sehr schnell.
Jedes Härchen an meinem Körper stellte sich auf. Ich schmeckte Metall, als würde ich an einer Patrone lutschen.
»Geh weg!«, schrie ich Janna an, aber sie blieb einfach stehen und sah mich blinzelnd an.
Also schubste ich sie. Ich wollte nur, dass sie nicht in meiner Nähe ist.
Genau in diesem Augenblick schlug der Blitz ein. Er drang auf meinem Rücken in mich ein und fühlte sich an, als würde ich mit einem Schwert erdolcht werden, das frisch aus einem Schmelzofen kam. Ich empfand Schmerz, doch es war mehr als das. Der Schmerz war so enorm, dass er zu etwas anderem wurde. Er fühlte sich an wie Leben. Wie die pure Essenz von allem. Und er füllte mich aus. Lud mich auf.
Ich war so voller Blitz, dass mir erst bewusst wurde, was ich getan hatte, als es bereits vorbei war. Als mir mein Haar wie schwarzer Schnee vom Kopf fiel.
Dann sah ich Janna fünf Meter entfernt in der Mitte der Brücke liegen. Der Verkehr war zum Stillstand gekommen. Leute deuteten mit dem Finger. Schrien. Liefen zu ihr.
Ich war wie gelähmt.
Jannas Bekleidung war fast vollständig verbrannt. Ihre Tennisschuhe waren regelrecht explodiert und entblößten ihre Füße, die leuchtend rot waren. Voller Bläschen. Geschwollen. Ihre Arme und Beine waren wund, als wäre ihre nackte Haut mit einem Skalpell abgeschabt worden, bis das darunterliegende Gewebe zum Vorschein gekommen war. Ihr Haar war wie meines zu Asche versengt. Ihre Kopfhaut war ebenfalls mit Brandblasen überzogen.
Und auf ihrer Brust, in der Nähe ihrer Schultern, waren zwei rote Handabdrücke in ihr Fleisch gebrannt.
»Sie!«, hörte ich jemanden aus der Menge rufen. »Sie haben das getan!«
Leute drehten sich von Janna zu mir um.
Leute, die in ihre Richtung gerannt waren, liefen nun auf mich zu.
Panik packte mein Herz und drohte, es zu zerquetschen. Ich stand mit dem Rücken zur Brüstung der London Bridge.
Die Hitze des Blitzes brannte noch immer in mir und machte es mir unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Mann kam zielstrebig auf mich zu … ein Mann, der groß genug war, um mich hochzuheben und über die Brüstung der Brücke zu werfen. Und er war nicht
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