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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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Fahrplan für die Ostküsten-Strecke, und dann stiegen wir in den Zug ein, der uns nach York bringen sollte. Mein ursprünglicher Plan hatte darin bestanden, mit Onkel Mo in den Zug einzusteigen und dann kurz vor Abfahrt, vorgeblich auf der Suche nach der Toilette oder dem Speisewagen, das Abteil zu verlassen. Zu diesem Zwecke hatte ich absichtlich meinen Seesack in der Gepäckablage am Ende des Waggons, neben der Tür, verstaut und mit Onkel Mo, der sich zuerst mit dem Gesicht in diese Richtung gesetzt hatte, die Plätze getauscht – unter der Behauptung, mir würde schlecht werden, wenn ich nicht mit dem Rücken zur Lok säße. Auf diese Weise hätte ich meinen Sitzplatz verlassen, meine Tasche nehmen und vor Abfahrt aus dem Zug aussteigen können und wäre dabei nicht einmal Gefahr gelaufen, gesehen zu werden, wenn die abfahrenden Waggons an mir vorbeirollten.
    In der Zwischenzeit hatte ich allerdings nachgedacht.
    Trotz der offenkundigen Bedeutung all der anderen Dinge, die ich in den letzten zwölf Stunden erfahren und erlebt hatte -Cousine Morags Anschuldigungen und Enthüllungen, der Aussicht, daß ich sie vielleicht endlich treffen würde, Allans frevlerischer Benutzung eines hochtechnischen elektronischen Apparats innerhalb der Gemeinde, seiner Lügen gegenüber Morag, seiner Lügen mir gegenüber, seiner Lügen der ganzen Gemeinde gegenüber und der nackten Machtgier, auf die diese Symptome hindeuteten, ganz zu schweigen von Großvaters profaner, fehlgeleiteter Schwäche und seinem Versuch, mich zu verführen –, wollte mir einfach die Notiz auf der Adressenliste im Schreibtisch nicht aus dem Kopf gehen, die Notiz neben Großtante Zhobelias Namen: »Über Onkel Mo«.
    Mir fielen Yolandas Worte wieder ein. Da war etwas, soviel ist mal sicher.
    Es sagte viel über die korrumpierende Wirkung der arglistigen Täuschung, die mir offenbar geworden war, daß ich Worte, die mir einst so unschuldig oder zumindest unbedeutend erschienen wären, nun zutiefst verdächtig fand. Großtante Zhobelias Entscheidung, ihre Verwandten aufzusuchen, und ihr Untertauchen, soweit es die Gemeinde betraf, war mir zuvor zwar immer sonderbar vorgekommen, ließ sich jedoch leicht innerhalb der normalen Gesetzmäßigkeiten menschlicher Widersprüchlichkeit erklären; Menschen tun beständig aus für sie guten und offensichtlichen Gründen Dinge, die uns unverständlich sind, und ich hatte mir weder über Zhobelias Entscheidung noch über Brigits oder Rheas Abkehr vom Glauben große Gedanken gemacht, sondern einfach hingenommen, daß Menschen gelegentlich eben seltsame und sogar dumme Dinge taten.
    Doch jetzt, in diesem ansteckenden Klima des Mißtrauens und der Besorgnis, das durch meine Entdeckung von Allans Verlogenheit und die Erkenntnis, daß sich hinter dem Schleier des familiären und religiösen Vertrauens und der Liebe eine Maschinerie perfider Boshaftigkeit verbarg, entstanden war, überlegte ich bei vielem, was ich zuvor in blindem Vertrauen akzeptiert hatte, welche finstere Absicht sich dahinter verbergen mochte.
    Großtante Zhobelia. Über Onkel Mo. Ich fragte mich…
    Einen Moment lang übermannte mich ein Schwindelgefühl, wie schon in der Nacht zuvor, als ich rittlings im Fenster des Abstellraums gehockt hatte. Das Schwindelgefühl legte sich wieder, wie es dies auch in der Nacht zuvor getan hatte, als ich im offenen Fenster an der Rückfront des Herrenhauses gehockt und einen Augenblick völliger Klarheit erlebt hatte.
    Ich traf meine Entscheidung; mein Mund war trocken, und ich hatte einen metallischen Geschmack auf der Zunge. Mein Herz raste; wieder einmal. Es wurde langsam zur Gewohnheit.
    Zum Teufel auch. Ich würde in dem verdammten Zug bleiben. Der Fahrplan besagte, daß ich in Newcastle upon Tyne aussteigen und noch rechtzeitig für mein Rendezvous mit Cousine Morag einen Zug zurück nach Waverley erwischen könnte. Natürlich nur, wenn alles fahrplanmäßig lief. Ich würde es riskieren.
    Der Zug setzte sich in Bewegung. Eine Durchsage informierte uns darüber, daß ab sofort im Speisewagen kleine Speisen, Erfrischungen und alkoholische Getränke erhältlich seien.
    »Ich glaube, das bedeutet, daß die Bar jetzt geöffnet ist, Onkel Mo«, bemerkte ich munter. »Soll ich hingehen und uns etwas holen?«
    »Was für eine phantastische Idee, Nichte!« rief Onkel Mo und holte seine Brieftasche heraus.

 
Kapitel
Einundzwanzig
     
     
    »Träume«, wiederholte Onkel Mo bekümmert; offenkundig hatte er sich langsam

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