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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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entreißen könnte, um ihn zu verschlingen. Das Kind sah mich über die Schulter seiner Mutter an, ein Ausdruck der verständnislosen Verblüffung in seinen großen, dunklen Augen. Mutter und Kind verschwanden im Büro.
    *
    Eine halbe Stunde später brachte der Bus Onkel Mo und mich nach Stirling. Bruder Vitus war beauftragt worden, uns zu verabschieden. Er trug unsere Taschen und schien vor Verlegenheit oder Scham recht einsilbig.
    Als der Bus mit uns davonfuhr, winkte Bruder Vitus uns noch einmal pflichtschuldig hinterher, und ich wurde unwillkürlich daran erinnert, wie gänzlich anders doch mein letzter Abschied von High Easter Offerance gewesen war – in jener diesigen Morgendämmerung am träge dahinströmenden Fluß, während mir die guten Wünsche der gesamten Gemeinde in den Ohren klangen.
    In jenem Moment hätte ich weinen mögen, aber es war nun etwas Kaltes, Versteinertes und Hartes in mir, das meine Tränen zu Eis gefrieren ließ.
    *
    Als wir den Bahnhof von Stirling erreichten, blieben uns noch zwanzig Minuten, bevor unser Anschlußzug nach Edinburgh kam, eine Zeitspanne, wie Onkel Mo mir erklärte, die – selbst wenn man zwei Minuten für den Weg zum betreffenden Bahnsteig abzog – gerade ausreichte, um an einem gepflegten Ort einen großen, gepflegten Wodka-Tonic zu trinken, ohne den Rest allzu gierig hinunterkippen und anschließend in einem würdelosen Galopp zum Bahnsteig hetzen zu müssen. Ihm stand daher der Sinn danach, eben diesen gepflegten Ort aufzusuchen, und er fragte mich, ob ich ihm wohl bei einem Frühstücksgläschen Gesellschaft leisten würde, da es für ihn doch noch recht früh am Morgen sei, wenn man die Umstände und seinen derzeitigen Lebenswandel in Betracht zog. Ich ließ mich zu einem Orangensaft und einem Sandwich einladen.
    Onkel Mo erklärte, daß es sich bei diesem Wodka um eine für einen Pub ausgesprochen gute Qualität handelte, und kippte ihn herunter, als wäre es Wasser. Er bestellte einen zweiten. »Man muß Heu machen, solange die Sonne scheint, Isis«, bemerkte er, als er bei der Bardame bezahlte. »Man muß die Gelegenheiten beim Schopfe packen! Das Leben auskosten!« Er packte das Glas und kostete auch diesen Wodka, der sich, wie schon sein Vorgänger, eines Lobes würdig erwies.
    Ich verdrückte mein Sandwich mit ein paar schnellen Bissen und maß die Schlucke meines Orangensafts so ab, daß ich mein Glas zwei, drei Minuten vor Ankunft unseres Zuges leer hatte. Onkel Mo schaffte es, noch einen weiteren Wodka-Tonic hinunterzukippen, bevor wir den Zug in den Bahnhof einfahren hörten und eilig die Bar verlassen mußten, um zum Bahnsteig zu laufen.
    Onkel Mo kaufte meine Fahrkarte im Zug. Eine einfache Fahrt, wie ich bemerkte. Ich sprach ihn darauf an.
    Er schaute betrübt drein. »Dein Bruder gab mir das Geld«, erklärte er. »Er wird später weitere Geldmittel für eine Rückfahrkarte und für deine Unterbringung schicken.«
    Ich nickte stumm.
    Wie sich herausstellte, konnte man im Zug von Stirling nach Edinburgh Erfrischungen erstehen, die von einem Servierwagen aus verkauft wurden. Onkel Mo fand dies heraus, indem er einen anderen Reisenden fragte. Eine Weile saß er nervös da und drehte sich immer wieder zum Gang um, dann verkündete er, er würde sich auf die Suche nach einer Toilette machen. Ein paar Minuten später kehrte er mit vier Miniaturfläschchen Gin, einer größeren Flasche Tonic und einer kleinen Dose Orangensaft zurück. »Ich bin zufällig dem Servierwagen begegnet«, erklärte er, während er seine Vorräte auf dem Tisch abstellte und mir den Orangensaft reichte. »Kein Wodka. Was soll man da sagen?«
    »Hmm«, sagte ich.
    Ich war bereits dabei, meine Pläne zu überdenken.
    Nachdem er die vier Gin mit der Verachtung vernichtet hatte, die sie offensichtlich verdienten, weil sie keine Wodkas waren, schien Onkel Mo noch immer nicht sonderlich betrunken, obschon er gelegentlich seine Worte etwas lallend aussprach und ihm die Wortwahl mitunter etwas mißglückte.
    Uns blieb in Waverley eine halbe Stunde; da war es nur natürlich, diese Zeit in einer Bar totzuschlagen. Onkel Mo schien mittlerweile einen gewissen Pegel erreicht zu haben und schaffte es, die dreißig Minuten einzig mit zwei Wodkas zu überstehen (die zwölf, die aufgrund der Tatsache, daß es im Bahnhof keinen Alkohol zu kaufen gab, vorsorglich in seinem Flachmann verschwanden, natürlich nicht mitgezählt).
    Wir verließen die Bar, ich besorgte mir vom Auskunftsschalter einen

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