Die Auserwählte
Onkel Mo beugte sich vor und ergriff abermals meinen Arm. »Es gibt da Dinge; Dinge, über die ich geschworen habe, Stillschweigen zu wahren.«
»Ach wirklich?«
»Ja. Zum Wohle von uns allen…« Er verzog hämisch den Mund. »So hat man mir zumindest gesagt. Dann höre ich, was angeblich vorgefallen ist…« Er schaute drein, als hielte er es für besser, nicht weiter darauf einzugehen, und trank statt dessen einen weiteren gierigen Schluck. Er leerte seinen Becher und schaute sich auf dem mit Flaschen übersäten Tisch um.
»Soll ich uns noch ein paar Erfrischungen holen, Onkel?« fragte ich und leerte eiligst mein Bier.
»Nun«, erwiderte er. »Ich denke… aber ich trinke heute doch recht schnell. Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich ein Sandwich oder so was essen. Vielleicht…«
»Nun«, erklärte ich und hielt meinen leeren Plastikbecher hoch. »Ich denke, ich jedenfalls werde losgehen und mir noch ein Bier holen, also, wenn du…«
»Ach, was soll’s. Aber ich muß etwas auf die Bremse treten und ein Sandwich oder irgend etwas anderes essen. Hier.« Er tastete in der Jacke herum, dann mußte er sie mit der anderen Hand öffnen und hineinschauen, um seine suchenden Finger zu führen, bevor er endlich seine Brieftasche fand und vorsichtig eine Zwanzig-Pfund-Note herausholte. »Hier.«
»Danke, Onkel. Wie viele soll ich – «
»Ach, ich sollte wirklich etwas auf die Bremse treten, aber wir sollten auch einen Vorrat anlegen, bevor ihnen das Zeug ausgeht. Sagen wir…« Er wedelte schlaff mit der Hand und schüttelte den Kopf. »Wieviel auch immer du dafür bekommst. Und natürlich auch, was immer du haben willst.«
»Wird gemacht!« erwiderte ich fröhlich. Ich räumte den Tisch auf und stopfte einige unserer Abfälle in die kleine braune Papiertüte. Ich tat auch meine Bierdose hinein, die noch halb voll war. Ich holte die Dose wieder heraus, bevor ich den Rest des Abfalls auf dem Weg zum Speisewagen in einen Mülleimer warf.
Ich hatte ein wenig Wechselgeld von der letzten Bestellung behalten. Von dieser Bestellung steckte ich das gesamte Wechselgeld ein, verschlang ein Sandwich an der Bar und kehrte beschwingt ins Abteil zurück, in der Hand dieselbe Bierdose, die ich mit hinausgenommen hatte.
»Nachschub!« rief ich aus und stellte eine weitere raschelnde braune Papiertüte auf den Tisch.
»Ah! Schön. Ja ja. Nun, der Nachschub ist gesichert. Ach, du bist ein gutes Kind«, lobte Onkel Mo, und seine Hände schwenkten wie Tentakel auf die Papiergriffe der Tüte zu.
»Laß mich das machen«, sagte ich.
Vor dem Fenster glitt Lindisfarne, die Heilige Insel, jenseits der Wiesen und der langen, flachen Dünen vorbei. Zwischen dem Festland und der Insel lagen verlassene Hektar sandigen Watts, das an einigen Stellen schon von der steigenden Flut überspült wurde. Ein Auto wagte die Überquerung auf dem Bohlenweg über den Sandstrand, an dem schon die ersten Wellen leckten. In der Ferne erhob sich dramatisch eine kleine Burg auf dem einzigen erhöhten Terrain der Insel, einem ebenen Felsplateau zum Südstrand der Insel hin. Jenseits davon, auf dem Festland, das der Insel gegenüberlag, ragten zwei riesige Obelisken vor den Meilen und Abermeilen niedriger Sanddünen auf, und am seewärtigen Horizont sah man eine verschwommene Silhouette, bei der es sich – wenn ich es von den Landkarten richtig in Erinnerung hatte – um Bamburgh Castle handeln mußte.
»Hast du uns Sandwiches mitgebracht?« fragte Onkel Mo bettelnd, als ich die Tüte auspackte und ihm einen Wodka einschenkte.
»Ach, wolltest du tatsächlich ein Sandwich? Tut mir leid, Onkel Mo, soll ich – « Ich machte Anstalten, wieder von meinem Sitz aufzustehen.
»Nein, nein«, erklärte er eilig und winkte mir, mich wieder zu setzen. »Ist egal. Es ist nicht wichtig«, lallte er.
»Sieh mal, ich habe in einem Extra-Glas etwas Eis mitgebracht«, sagte ich und ließ zwei Würfel in seinen Wodka fallen.
»Du bist ein gutes Kind«, lallte er; er prostete mir mit seinem Becher zu und schlürfte seinen Wodka. Einige Tropfen liefen über sein Kinn. »Ach, du meine Güte.« Ich reichte ihm eine Serviette, und er tupfte sich das Kinn ab. Er stellte das Glas ab, und etwas vom Inhalt schwappte heraus, aber er schien es nicht zu bemerken. »Du bist ein sehr gutes Kind, Isis. Sehr gut.«
So gut nun auch wieder nicht, dachte ich bei mir und empfand kurz ein – wie ich hoffte – angemessenes Schuldgefühl ob meiner Verlogenheit und der Tatsache,
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