Die Auserwählte
daß ich Onkel Mos Schwäche für den Alkohol so grausam ausnutzte.
Ich seufzte. »Ich denke oft an Großtante Zhobelia«, bemerkte ich unschuldig. »An meine Mutter und meinen Vater denke ich nur ganz selten, wohl weil ich noch so jung war, als sie starben, aber ich denke oft an Zhobelia, auch wenn ich mich nicht sehr deutlich an sie erinnern kann. Ist das nicht komisch?«
Onkel Mo schaute drein, als würde er gleich weinen. »Zhobelia«, schniefte er mit gesenktem Kopf und starrte in seinen Wodka. »Sie ist meine Mutter, und ich liebe sie, wie es einem guten Sohn ansteht, aber es muß doch gesagt werden, daß sie mit zunehmendem Alter… zänkisch geworden ist, Isis. Auch schwierig. Sehr schwierig. Und verletzend. Ausgesprochen verletzend. Du kannst dir… Nein. Aber so ist es halt. Schrecklich verletzend. Schrecklich. Ich glaube, sie liebt es jetzt besonders, jenen weh zu tun, die sie am meisten lieben. Ich habe versucht, mich gut um sie zu kümmern…« Er schniefte lautstark und tupfte sich mit der Serviette, die ich ihm gegeben hatte, die Nase ab. »Es gibt da etwas… ich weiß auch nicht. Ich glaube, die beiden hatten mehr gewußt, als sie zugegeben haben, Isis. Ich weiß, daß es so ist.«
»Welche beiden, Onkel?«
»Zhobelia und Aasni; meine Mutter und meine Tante. Ja, ja. Sie wußten Bescheid über… gewisse Dinge; ich weiß auch nicht. Ich habe Sachen aufgeschnappt, die sie zueinander gesagt haben, wenn sie sich nicht in der Sprache ihrer alten Heimat unterhalten haben oder in der Insel-Sprache, die sie auch recht gut kannten, mußt du wissen, o ja. Ich habe einen Blick aufgeschnappt oder den Anfang eines Satzes, und dann haben sie mit einem Mal auf khalmakistani weitergeredet oder auf gälisch oder in dieser Mischung aus beidem und Englisch, die niemand außer den beiden verstand, und dann kam ich nicht mehr mit, aber… oh.« Er wedelte mit der Hand. »Ich… es klingt, als würde ich dummes Zeug reden, ich weiß… ich… ich bin sicher, du denkst… ich sei eben ein alter Mann, aber das bin ich nicht, Isis. Du weißt, beim letzten Fest, als ich fragte, nun; ich hab’s nicht wirklich getan, aber ich habe daran gedacht zu fragen… nun; ich habe schon gefragt, nehme ich an, aber eben nicht so… nicht so richtig… aber… du…« Er schüttelte den Kopf, Tränen in den Augen, und seine Lippen bewegten sich wie aus eigenem Antrieb. »Verdammte Träume, was, Isis?« schniefte er und sah mich an. Er schüttelte abermals den Kopf, starrte wieder in seinen Plastikbecher und trank.
Ich ließ ihm eine Weile, um sich zu fassen, dann stand ich auf und setzte mich neben ihn – natürlich auf mein Sitzbrett, das ich mit hinübernahm –, legte meinen Arm um seine Schulter und hielt seine Hand.
»Das Leben erscheint einem manchmal grausam, Onkel Mo«, sagte ich. »Ich habe es jetzt erfahren, auch wenn du es schon viel länger weißt. Du bist älter und klüger als ich, und du hast mehr gelitten, aber du mußt doch in deinem Herzen, in der Seele wissen, daß Gott dich liebt und daß Er – oder auch der Gott deines Propheten, wenn du willst –, daß Gott dir Trost geben kann, ebenso wie deine Familie und Freunde dich trösten können. Das weißt du doch, oder, Onkel Mo?«
Er stellte seinen Plastikbecher ab, drehte sich zu mir um und streckte den Arm aus; ich beugte mich vor, damit er seinen Arm zwischen mich und den Sitz schieben konnte. Wir umarmten einander. Er roch noch immer nach Eau de Toilette. Mir war gar nicht aufgefallen, wie beinahe zart gebaut er in Wirklichkeit war; kleiner als ich und irgendwie stämmig, gepolstert mit seinen eleganten Kleidern, damit er massiger wirkte, als er es tatsächlich war. Ich fühlte seine Brieftasche, die gegen meine Brust drückte, und mit meiner linken Hand spürte ich etwas Hartes in seiner anderen Jackentasche, bei dem es sich wahrscheinlich um ein tragbares Telefon handelte.
»Du bist ein so gutes Kind, Isis!« versicherte er mir abermals. »Ein so gutes, gutes Kind!«
Ich tätschelte ihm den Rücken, ganz so, als wäre er das Kind, nicht ich.
»Und du bist ein guter Onkel«, sagte ich, »und ich bin sicher, daß du auch ein guter Sohn bist. Ich bin überzeugt, daß Zhobelia dich liebt und dich gerne um sich hat.«
»Ach«, seufzte er und schüttelte seinen Kopf gegen meine Schulter. »Sie hat so wenig Zeit für mich. Ich sehe sie nicht so oft, wie ich es gerne täte, Isis. Sie haben sie nach da oben gebracht, weit weg von mir; ha! Ich muß zahlen; von
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