Die Auserwählten
Fulton, setzte er sich in seine komfortable Limousine und fuhr in Richtung Bella Center. Er war ein beschäftigter Mann. Ein Mann mit einer klaren Mission. Er musste die Welt retten.
Freitag, der 18. Dezember
Niels wachte mit dem Gefühl auf, vom Scheitel bis zur Sohle voller Energie zu stecken. Ein wohlbekanntes Gefühl, das er dem Gegenteil auf jeden Fall vorzog. Der Leere . Nicht der Depression, wie Kathrine immer meinte. An diesen Tagen hatte er einfach wenig oder sehr wenig Energie.
***
Nørrebro, Kopenhagen
Obgleich sie nur dasaß und vor sich hin starrte, war sie anders.
Niels bemerkte es sofort, als er das Café betrat und Hannah am hintersten Tisch an ihrem Kaffee nippen sah. Sie hatte sich hübsch gemacht – Make-up aufgetragen, eine Spur Lippenstift, gekämmte Haare –, aber das war nicht der Grund für die Aura, die sie umgab. Die hatte sie einzig und allein ihren Augen zu verdanken, dem Blick, mit dem sie die anderen Gäste im Café musterte. Plötzlich war wieder Leben in ihr, Neugier, ein grundlegendes Interesse für alles, was um sie herum geschah. Als sie ihn sah, winkte sie ihm zu. Niels lächelte. Neben ihr stand der Pappkarton mit den Dokumenten.
»Wir müssen das System feiern.« Sie blickte auf das Tablett, das vor Niels stand. »Brot, Eier, Croissant, Melone. Ich habe für uns beide bestellt.«
»Der Mord in Kapstadt. Wie …«
»Ich habe das System ausgerechnet.« Sie sprach hektisch. »Ausgegangen bin ich von dem Mythos und der Zahl sechsunddreißig.«
»Jetzt hören Sie aber auf, Hannah. Sie sind doch gar nicht religiös.«
»Sind Sie sich da so sicher?« Sie schmunzelte. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich bin. Was ich aber weiß, ist, dass der Unterschied zwischen Religion und Wissenschaft stark überschätzt wird. Wollen Sie sich nicht setzen?«
Niels realisierte erst jetzt, dass er noch immer stand, und nahm Platz.
»Dieser Gegensatz fußt nämlich auf einer falschen Prämisse. Es gibt ihn eigentlich gar nicht. Die ersten Wissenschaften entsprangen dem Wunsch, Gottes Existenz zu beweisen. Eigentlich sind Wissenschaft und Religion von Anfang an Hand in Hand gegangen. In einigen Phasen zugegeben mit etwas mehr Liebe als in anderen.«
»Aber warum ausgerechnet sechsunddreißig?« Niels schenkte sich Kaffee ein. »Ergibt das irgendeinen Sinn?«
»In Bezug auf das System schon. Und genau das müssen wir nutzen. Passen Sie auf: Im Moment gibt es innerhalb der Wissenschaften die klare Meinung, dass wir bis jetzt nur etwa vier Prozent aller Stoffe im Universum kennen. Vier Prozent.«
»Und was ist mit den sechsundneunzig anderen?«
»Genau. Was ist mit denen? Wir Astrophysiker sprechen von ›dunkler Materie‹ oder ›dunkler Energie‹. Vielleicht sollte man es aber einfach als Unwissenheit bezeichnen. Es gibt so viel, das wir nicht wissen, Niels. Entsetzlich viel. Trotzdem führen wir uns wie kleine Götter auf, die alles unter Kontrolle zu haben glauben. Wie größenwahnsinnige kleine Kinder. Oder etwa nicht? Haben wir uns nicht so entwickelt? Als redeten wir uns selbst ein, diese vier Prozent wären alles, was es gibt. Und dass das andere – das Unbekannte – nicht existiert. Aber das tut es. Wir wissen, dass es da ist, verstehen es aber einfach nicht.«
»Aber registriert sind doch nur … wie viele Morde? Einundzwanzig? Nicht sechsunddreißig.«
»Bis jetzt, ja. Aber nur, weil die anderen noch nicht bemerkt worden sind oder niemand darüber berichtet hat.«
Niels zögerte. Er wusste nicht, ob er neugierig oder skeptisch klang, als er fragte:
»Der Mord in Kapstadt, Hannah. Wie haben Sie das rausgekriegt?«
»Wissen Sie, wer Ole Rømer ist?«
»Ja, ein Polizeidirektor irgendwann im achtzehnten Jahrhundert.«
»Und ein Astrophysiker.« Sie unterbrach ihn. »Wie ich. Er hat als Erster postuliert, dass Licht eine Geschwindigkeit hat, und er hat diese mit erstaunlicher Genauigkeit ausgerechnet.«
»Was hat das mit unserem Fall zu tun?«
»Der König hat Rømer einmal gebeten auszurechnen, wie groß der bebaute Teil Kopenhagens ist. Natürlich hätte man da mit mühsamen Vermessungen anfangen können, nicht wahr? Rømer aber hat diese Aufgabe in weniger als zehn Minuten gelöst. Wie?«
Eine Kellnerin ging vorbei. Hannah fing ihren Blick ein.
»Ich weiß, dass das jetzt seltsam klingt, aber könnten Sie uns eine Schere und eine ganze Melone bringen?«
Die Kellnerin sah Hannah verwundert an, sagte: »Einen Augenblick«, und verschwand in Richtung Küche.
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