Die Auserwählten
kleinen, unauffälligen Schuppen am Rand dieses Slums aus Millionen anderer Häuser – vielleicht lag hier wirklich ein Fehler vor. Andererseits wusste sie über dieses Haus ja nur, dass darin im Juli ein Mord geschehen sein sollte. Mehr hatte Niels nicht gesagt – und warum sollte das nicht möglich sein?
Marc blieb im Auto sitzen. Die drei Wachen waren ausgestiegen, und einer der Männer blieb die ganze Zeit dicht hinter Kathrine.
Sie ging über den trockenen, rissigen Lehm zum Haus. Die Haustür, eine ausgediente alte Schranktür, verdiente diesen Namen eigentlich nicht. Ein paar Jungs kickten vor dem Haus mit einem Kleiderbündel. Einer von ihnen rief: »You wanna fuck, white woman?«, und grinste den anderen zu. Andy rief etwas auf Zulu, das die Jungs aber nicht zu beeindrucken schien.
Kathrine klopfte vorsichtig an und wartete, aber nichts geschah. Erst nach einem weiteren Klopfen öffnete schließlich eine zahnlose, alte Frau, die durch sie hindurchzuschauen schien.
»Hallo«, sagte Kathrine und wurde sich erst jetzt richtig bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte. »Wohnen Sie hier?«
Keine Antwort. Kathrine nahm den matten, grauen Schleier auf den Augen der Frau wahr, sie musste fast blind sein wie so viele in Afrika.
»Verstehen Sie Englisch?«
Kathrine wollte sich gerade umdrehen und Marc rufen, als die Frau auf Englisch sagte: »Mein Sohn ist nicht zu Hause.«
»Ihr Sohn?«
»Ich hüte sein Haus.«
»Okay.« Kathrine hoffte, die Frau würde sie hereinbitten, aber das geschah nicht. »Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich herausfinden möchte … Mein Name ist Kathrine. Ich bin nicht aus Südafrika«, unterbrach sie sich. Letzteres hatte in der Regel einen positiven Effekt bei den Einheimischen. Die Europäer waren beliebt – auf jeden Fall beliebter als andere Weiße.
Auf dem Gesicht der alten Frau war endlich eine Regung zu erkennen: Ein nervöses Zucken unterhalb der Augen. Sie sagte:
»Amnesty?«
Noch bevor Kathrine ›Nein‹ sagen konnte, steckte die Alte den Kopf aus der Tür. »Wie viele sind Sie?«
»Mein Kollege sitzt im Wagen«, sagte Kathrine. »Und dann sind noch drei Sicherheitsleute da.«
»Wurde ja auch Zeit, dass Sie kommen.«
Die Alte drehte sich um und verschwand im Haus. Wäre sie nicht blind gewesen, hätte sie die großen Buchstaben an der Tür des LandRovers lesen können: DBB Architects . Aus dem Inneren des Hauses rief die Alte: »Come in, Amnesty!«
***
Ein paar wackelige Holzstühle, ein Tisch und ein einfaches Bett, über dem ein Plakat der südafrikanischen Nationalmannschaft hing. »Bafana, Bafana. God is on your side«, stand über dem Plakat an die Wand geschrieben.
Die Alte schenkte Kathrine Tee ein, ohne auf ihre Antwort zu warten. »Rooibush. Is good for you«, sagte sie. »It clears your mind.«
Kathrine starrte auf die trübe Flüssigkeit in ihrer Tasse.
»Was haben Sie vor, um ihn da rauszuholen?«, fragte die Alte. »Er hat sie nicht umgebracht, verstehen Sie? Was wollen Sie tun?«
Kathrine würgte ihre Spucke runter. Ich muss ihr sagen, dass ich nicht von Amnesty International komme, dachte sie. »Ich denke, es wäre das Beste, Sie klären mich erst noch einmal über den Fall auf«, sagte sie stattdessen.
»Er hat sie nicht getötet. Die in der Fabrik. Er ist unschuldig, wie Mathijsen es gesagt hat.«
»Wer?«
»Mathijsen«, wiederholte die Alte, wobei ein fast milder Zug ihren Mund umspielte. Auch die tiefen Falten auf ihrer Stirn schienen sich bei dem Gedanken an diesen Mathijsen etwas zu glätten. »He was a good man. He helped us.«
Die Frau sprach schnell und undeutlich, so dass Kathrine sie nur mit Mühe verstand.
»Mat …«
»Mathijsen. Der Anwalt meines Sohnes. Joris Mathijsen.«
»Was ist mit ihm?«, fragte Kathrine. »Steht ihr Sohn unter Verdacht, ihn getötet zu haben?«
»No! No!«
Die Alte schüttelte den Kopf. »Mathijsen starb in diesem Haus. Er wollte uns helfen.«
Kathrine fiel ihr ins Wort. »Ich verstehe nicht; der Anwalt starb hier? Wie und wann?«
***
Bevor die Frau die Geschichte erzählte, holte Kathrine Marc ins Haus.
»Die Alte denkt, dass wir von Amnesty kommen«, flüsterte sie. »Ich glaube, wir sollten ihr diese Hoffnung lassen.«
Als sie im Haus waren, nickte Marc der Alten höflich zu, doch als er bemerkte, dass sie nichts sehen konnte, grüßte er sie mit einem Hallo.
Obgleich sie ihre Geschichte sicher schon oft erzählt hatte, war sie immer noch sichtlich bewegt:
Benny, ihr
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