Die Auserwählten
Sohn, hatte in einer Schuhfabrik in Durbanville gearbeitet. Er war dann aber gefeuert worden, und in dem darauffolgenden Tumult war die Tochter des Direktors mit einem Messer erstochen worden. Benny war angeklagt worden. Irgendein anderer, dessen Namen Kathrine nicht verstanden hatte, hatte anschließend aber ausgesagt, dass Benny mehrere Meter entfernt gestanden hatte und unmöglich der Täter sein konnte. Trotzdem war die Situation für ihren Sohn vollkommen hoffnungslos, da er nicht genügend Geld hatte, um sich einen guten Anwalt zu suchen.
»But then came Joris Mathijsen.«
Marc kannte den Namen gut. Mathijsen war bekannt als einer der Köpfe hinter der Wahrheitskommission, die in den Jahren von 1995 bis 2000 daran gearbeitet hatte, die unter dem Apartheidsregime begangenen Verbrechen aufzudecken. Die Kommission unterschied sich bedeutend von anderen bekannten juristischen Organen, denn ihr war es nicht darum gegangen, Menschen zu bestrafen. Die Wahrheitskommission hatte nämlich allen Verbrechern Amnestie angeboten, wenn sie eine vollständige Aussage machten. Wer die Wahrheit sagte, erhielt die Freiheit. Wie Mathijsen – der schon lange nicht mehr im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand – Benny gefunden hatte, war hingegen ein Rätsel, das die Frau nicht erklären konnte. Sie wusste nur, dass sich Benny und Mathijsen mehrmals im Gefängnis gesprochen hatten und dass die Begegnungen mit dem erfahrenen Anwalt ihrem Sohn neue Hoffnung gegeben hatten. Am 24. Juli hatte Mathijsen dann Bennys Elternhaus in Khayelitsha aufgesucht. Er hatte mit der alten Frau Tee getrunken und ihr versprochen, Benny aus dem Gefängnis zu holen.
»He promised. Understand?«
Aber als der Anwalt wieder nach Hause fahren wollte, hatte er einen Schatten hinter dem Haus gesehen und war rausgegangen. Die alte Frau war drinnen geblieben. Mehrere Minuten waren vergangen, in denen sie ängstlich im Haus gewartet hatte. Als sie dann doch nach draußen gegangen war, hatte sie Joris Mathijsen auf dem Rücken liegend, die Arme ausgestreckt, am Boden gefunden. Tot. Benny wurde wegen Totschlags zu zweiundzwanzig Jahren Haft verurteilt, ohne Option auf eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung.
Kathrine war den Tränen nahe, als sie die Hoffnungslosigkeit im Gesicht der alten Frau sah. Wenn er aus dem Gefängnis kommt, bin ich schon lange tot . Kathrine versprach zu helfen, und für ein paar Sekunden glaubte sie selbst daran, für Amnesty zu arbeiten. Auf jeden Fall würde sie Kontakt zu dieser Organisation aufnehmen, wenn sie wieder zurück war. Das versprach sie sich selbst.
Die alte Frau blieb einen Moment still sitzen. Dann stand sie mühsam auf und schleppte sich zu einer Hintertür, die Kathrine zuvor noch nicht bemerkt hatte. Mit einem Stoß drückte sie die Tür auf. Gemeinsam gingen sie über einen kleinen, schmutzigen Innenhof, bis sie gut dreißig Meter weiter an einen Platz kamen, der von Blumen übersät war, die längst unter der brennenden Sonne vertrocknet waren. Daneben stand ein kleines Foto des Anwalts. * 26. April 1962. Gestorben 24. Juli 2009.
52.
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Niels-Bohr-Institut, Kopenhagen
Niels-Bohr-Nacht . Allen Angestellten des Instituts war das ein Begriff. Sie kannten die endlosen Nächte, in denen man nur das leise Summen der Versuchsapparaturen oder das Knistern der Papiere hörte, die die Plotter ausspuckten. Nächte, in denen die Gedanken das Gebäude nicht zu verlassen schienen. Man nahm sie nicht mit. Sie blieben hier, so dass man wieder hierher zurückkehren musste, um erneut ein Teil von ihnen zu werden. Hannah spürte, wie sehr sie diesen Ort vermisst hatte, während sie die Küche auf der Suche nach etwas Essbarem durchstöberte. Bockwürstchen und eingeschweißte Grillwürste jenseits des Verfallsdatums. Daran musste man sich gewöhnen. Physiker waren keine Gourmets. Das war eine Tatsache. Es gab in der Kantine nicht einen Tisch, auf dem neben dem Essen nicht auch Papier und Stift lagen – das war wie eine Hausregel – für den Fall, dass man beim Mittagessen plötzlich eine Idee hatte.
Hanna hatte das Klingeln des Telefons nicht gehört. Ein unbeantworteter Anruf . Sie wählte die Nummer der Mailbox. »Sie haben eine neue Sprachnachricht«, sagte die Stimme. Die Nachricht war von Niels. »Hannah … ich habe eben von Kathrine erfahren … Sie hatten Recht mit Kayelitsha. Ich begreife nicht, wie Sie das rausgekriegt haben. Ort und Zeit waren richtig. Joris Mathijsen. Ein bekannter Strafverteidiger. Alles
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