Die Auserwahlte
Warum gewöhnst du dir nicht an, alles gleich beim erstenmal richtig zu machen? Dann sparst du dir 'ne Menge Arbeit.«
So wie du nach deinem ersten Schluck Bier im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren beschlossen hast, >das Richtige< zu tun, Joe Chambers? Nämlich Alkoholiker zu werden? erwiderte Thelma.
Natürlich nur in Gedanken.
Joe hätte sie umgebracht, wenn sie je solche Widerworte gewagt hätte. Oder ihr Schlimmeres angetan. Zum Beispiel, sie Tag für Tag ein kleines Stück weiter in den Tod zu prügeln ...
Aber er hatte nicht ganz unrecht, wie sie sich eingestehen mußte. Es gab tatsächlich einige Dinge, die sie gleich hätte richtig machen sollen, um sich Arbeit zu ersparen.
Beispielsweise hätte sie seinerzeit, vor über zwanzig Jahren, einem gewissen Joe Chambers einen Korb geben sollen, anstatt ihn zu heiraten und sich damit zu seiner Bettgespielin, Putzfrau und Arbeitssklavin degradieren zu lassen. Nur eines war sie mit der Hochzeit nicht geworden - Joes Ehefrau. Nicht in dem Sinn zumindest, in dem 99 Prozent der Bevölkerung Amerikas diesen Begriff auslegen mochten.
»Nun hau endlich ab und laß mich in Ruhe dieses Scheißspiel sehen!« fuhr er Thelma an, auch diesmal ohne sie wirklich zu registrieren.
Vielleicht, dachte Thelma, könnte ich seine Beleidigungen und Schikanen ein kleines bißchen leichter ertragen, wenn er mich dabei ansehen würde.
Aber das tat Joe Chambers nicht einmal, wenn er sich nachts auf sie wälzte und ihr seinen sauren Atem ins Gesicht hechelte .
Schweigend und mit einem leichten Ekel vor sich selbst, weil sie sich diesem Scheißkerl so wehrlos unterwarf, wandte Thelma sich um und ging zurück in die nicht sehr schmucke, aber doch saubere Küche des Farmhauses. Geräuschlos nahm sie dort die Schüssel mit der Suppe und einen Becher Milch, den sie zuvor gefüllt hatte, und verließ das Haus leise durch die Hintertür. Mit dem Fuß fing sie die zuklappende Fliegengittertür ab und schloß sie behutsam.
Dann schlich sie über den Hof hinüber zur Scheune, die sich vor dem nachtdunklen Firmament als tiefschwarzer Koloß abzeichnete. In der Lücke zwischen Scheune und Stall schimmerten einige Meilen entfernt ein paar Lichter wie vom Himmel gefallene Sterne.
Salem's Lot, Thelmas Heimatort.
Sie versuchte sich zu erinnern, wie lange sie nicht mehr dort gewesen war. Zwei Jahre oder drei? Bei ihrem letzten Besuch dort hatte sie alte Schulfreundinnen getroffen, die ihr geraten hatten, sich doch von Joe zu trennen. Mit ihrer Hilfe hätte Thelma den Schritt vielleicht geschafft, den Absprung von jenem Zug, der sie auf immer steiler abwärts führendem Gleis ins endgültige Aus beförderte und dessen Lokomotive von Joe Chambers gefahren wurde.
Doch Joe hatte Wind von der Sache bekommen und fortan verboten, in den Ort zu fahren, damit man ihr nicht noch mehr Flöhe ins Ohr setzen konnte. Und ihre Freundinnen hatten für den Versuch, Thelma zu helfen, bezahlt, indem sie Joe Chambers von seiner wirklich unangenehmen Seite kennengelernt hatten .
Thelma erreichte die Scheune und drehte sich in ihrem Schatten noch einmal zum Haus um, um zu überprüfen, ob Joe ihr nicht ausnahmsweise doch nachsah. Denn für das, was sie jetzt vorhatte, hätte er sie vermutlich auch windelweich geschlagen.
Obwohl - um das zu tun, war ihm im Grunde alles recht. Er fand immer etwas, wofür er sie bestrafen konnte - und wenn nicht, dann reichte ihm die Ausrede, daß es einfach wieder mal Zeit dafür wäre Doch drüben beim Haus rührte sich nichts. Nur die Stimme des Sportreporters wehte ganz leise durch die Nachtluft zu Thelma herüber, und wieder einmal fragte sie sich, weswegen Joe bei der Laut-stärke, in der er fernzusehen pflegte, nicht längst schon taub geworden war.
Sie wünschte, er wäre es.
Taub. Und blind. Und TOT!
»Irgendwann«, flüsterte sie so leise, daß es nicht einmal jemand gehört hätte, der in diesem Moment neben ihr gestanden hätte, »werde ich es tun. Irgendwann werde ich die Kraft dazu finden. Irgendwo werde ich sie finden .«
Sie erschrak beinahe über ihre eigenen Worte, so wie sie es jedesmal tat, wenn sie etwas in dieser Art sagte oder auch nur dachte. Etwas Kaltes tastete hinter ihrer Brust und fingerte nach ihrem Herzen.
Manchmal wollte sie dieser Kälte nicht länger Einhalt gebieten, weil etwas darin vielleicht die Kraft sein konnte, die sie brauchte, um sich gegen Joe Chambers aufzulehnen, um das Joch, das er ihr auferlegte, abzuwerfen. Aber zugleich hatte
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