Die Ausgelieferten
schwedischen Archiven finden – dass er bis Februar 1945 in der Wehrmacht gedient hat, scheint zu stimmen, aber über die folgenden Monate lässt sich keine Klarheit gewinnen. Auf Gotland wurde er von der schwedischen Polizei vernommen. Seine Papiere blieben dort in irgendeiner Schublade liegen und wurden erst in letzter Stunde gefunden. Am 14. Januar ließen die schwedischen Behörden ihn frei. Im September 1946 floh er mit einem Fischerboot nach England. Damit ist seine Geschichte zu Ende.
Somit bleibt noch von Edvard Alksnis zu berichten.
Alksnis hatte man ins Krankenhaus von Halmstad gebracht. Er gehörte zu jenen, die während der vorangegangenen Zeit fast völlig unsichtbar gewesen waren: er taucht in einigen Tagebuchnotizen aus der Zeit vor der Flucht aus Danzig auf, auf Bornholm teilt er ein Zimmer mit Presnikovs, er kommt nach Ystad, nach Ränneslätt.
Am 10. Dezember zeigt ein schwedischer Pfleger ihm eine alte Zeitung. Es war eine Ausgabe aus der letzten Novemberwoche; in ihr war zu lesen, dass Stalin den Appell des schwedischen Königs abgeschlagen hätte. Es gab keine Hoffnung mehr für die Balten, sie mussten ausgeliefert werden. Sie fasteten noch immer; obwohl zwei Esten den Hungerstreik freiwillig abgebrochen hatten, hielten die anderen durch. Sie lagen in den Krankenhausbetten, sprachen nur selten miteinander, schliefen viel, aber unruhig, sahen mit immer mehr abgemagerten und apathischen Gesichtern, wie die Schwestern kamen und gingen, wie die Wache an der Tür alle vier Stunden abgelöst wurde, wie der Posten draußen auf dem Flur auf und ab marschierte. Mit den Schweden sprachen sie selten, und wenn, dann nur über triviale Dinge: dass sie Wasser haben oder auf die Toilette gehen wollten. Gedanken an eine Flucht hatten sie schon lange aufgegeben. Jetzt lagen sie nur noch da, wurden immer schwächer, und ihre Hoffnung schwand immer mehr. Die Verbindungen mit der Außenwelt waren abgeschnitten. Ihre besten Informationskanäle, die baltischen Pastoren, waren nicht mehr zugänglich.
Das Krankenhaus lag in Halmstad.
Alksnis war einer der wenigen, die es manchmal nach ein wenig Bewegung gelüstete: er machte kleine Spaziergänge zwischen seinem Bett und dem Fenster, er lief in seinem Zimmer auf und ab, während die anderen still in ihren Betten lagen und ihm zusahen. Mitunter sprach er mit ihnen; er hielt kleine Monologe, die meist ohne Antwort blieben. »Ich war fast der einzige, der überhaupt etwas sagte, die anderen waren apathisch, lagen nur da, jeder für sich.« Nachdem der schwedische Pfleger ihm die Zeitung gezeigt hatte, sah er seine Lage in einem neuen Licht. Er sprach nun zu den anderen über die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage, erzählte ihnen, dass sie alle hingerichtet werden würden, redete von seiner Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod. Er erhielt nie eine Antwort. An der Decke hingen zwei Lampen, nackte Glühbirnen mit einem weißen Schirm. Messer und Gabeln waren verboten, zu den Mahlzeiten bekamen sie auch Gläser, die aber gleich nach dem Essen wieder eingesammelt wurden; wer nicht mehr streikte, aß von Zinntellern, mit einer stumpfen Gabel. Hinterher wurde alles gezählt und abgeholt.
Die Ärzte bekamen sie selten zu sehen. Wenn sie überhaupt kamen, so nur zu mehreren; sie untersuchten ihre Patienten schweigend. Auf Fragen antworteten sie ausweichend, prüften die Fieberkurven, blickten in die Augen der Balten, drückten auf ihre Bäuche und gingen dann wieder hinaus, worauf wieder völlige Stille eintrat.
Am 13. Dezember 1945 gegen 20 Uhr betrat eine Krankenschwester namens Elsa den Raum. Sie stammte aus Finnland. Wenn man Fotos von ihr betrachtet, hat man den Eindruck, dass sie damals mittleren Alters gewesen sein muss. Sie war unverheiratet. Sie brachte ein Tablett mit Kaffee und Lucia-Kringeln. Die Kringel sahen aus wie normale schwedische Kringel, »wie eine Acht«, und waren mit Safran gebacken. Die Schwester trat ein (einige schliefen bereits, sie schienen immer zu schlafen; draußen war es dunkel). Sie kam mit einem Tablett herein und fragte, ob jemand Kaffee und »Lussekätzchen« haben wollte. Wer wach war, schüttelte fast unmerklich den Kopf. Sie machte im Saal ihre Runde.
Schließlich blieb sie an Alksnis’ Bett stehen. Seine Arme lagen auf der Bettdecke, unter dem Kopf hatte er zwei Kissen, neben dem Bett stand ein Stuhl mit Briefpapier und einem Bleistift. Seine Nachttischlampe brannte. Sie hielt ihm das Tablett mit dem Kaffee und den »Lussekätzchen«
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