Die Ausgelieferten
1946 nach England. Er ist heute in der lettischen Gesandtschaft in London beschäftigt. Sie liegt am Eaton Place; diese Gegend ist völlig still. Die Stille wird nur manchmal, gleichsam aus Versehen, von Menschen gestört: weiße Häuser, ein schwacher Gestank nach weißem Marmor, Automobilen, alle Eingänge sind von Säulen flankiert. Eine Reihe von Botschaften und Gesandtschaften. Dieses Gebiet, das aus vielen Häuserblocks besteht, erinnert in vielem an italienische oder französische Friedhöfe. Dort sind die Grabsteine mitunter durch kleine, tempelähnliche Mausoleen ersetzt, weißgetünchte kleine Häuser, die der heiligen Stille geweiht sind; oft enthalten sie kleine Bänke und Tische für Weihrauchgefäße und Devotionalien, Friese und Ornamente. Hier liegt die lettische Gesandtschaft, sie ist ein Zentrum der lettischen Exil-Diplomatie, für landesflüchtige Letten. In Riga habe ich dieses Haus einmal in einem Film gesehen; es war heimlich aufgenommen worden, von der anderen Straßenseite. Diese Aufnahmen waren Bestandteil eines Dokumentarfilms über die »lettischen Kriegsverbrecher im Exil«. In diesem Film sah das Haus geheimnisvoll aus, Menschen kamen und gingen, es sah alles sehr dramatisch aus, ich hätte es beinahe nicht wiedererkannt. Hier arbeitet Eriks Zilinskis.
Er wurde 1919 geboren. Er ist unverheiratet; die britische Staatsangehörigkeit hat er nicht erworben, sondern besitzt noch seinen lettischen Pass. Er ist Rechtsanwalt von Beruf.
»Einzelheiten verschwinden«, sagt er, »ich kann mich nicht mehr genau erinnern, ich weiß nicht einmal, ob ich es überhaupt will.« Das Zimmer, in dem er sitzt, ist schwer und düster, braune Ledersessel und schwere Schreibtische stehen darin. Die Einrichtung wird schon Ende der dreißiger Jahre so ausgesehen haben, als die Gesandtschaft noch Verbindung mit dem Mutterland hatte, vor der Abschnürung, vor der Verpuppung. Er spricht von seiner Malerei, zieht Farbdias aus der Tasche, er hat seine eigenen Gemälde fotografiert. Es sind melancholische Stilleben in dunklen Farben, nicht schlecht. »Die Malerei ist mein Leben«, sagt er. »Mein Gedächtnis ist aber schlecht. Ich habe lange Jahre unter Schlafstörungen gelitten, ich kann schlecht einschlafen, liege nur da. Ich muss Tabletten nehmen. An frühere Zeiten erinnere ich mich nur dunkel.« Wie lange ist seine Schlaflosigkeit akut? »Seit 1950.« Er hat ein schmales, fast rechteckiges Gesicht. Nach Gotland ist er aus dem Kurland-Kessel gekommen; er wurde als Soldat registriert, weil er mit Soldaten nach Schweden gelangte. Er hatte aber glücklicherweise einen Freistellungsbescheid vom Frühjahr 1945 bei sich, der ihm schließlich zur Freiheit verhalf. Es war eine Freistellungsbescheinigung, die er den schwedischen Behörden vorlegen konnte, sie wurde registriert. Ausgestellt war sie am 24. Februar 1945 vom »SS-Ersatz-Kommando, Lettland«. Was er in der Zeit vom Februar bis zum Mai 1945 getrieben hat, liegt im Dunkeln; er kam in Uniform, wurde aber dennoch freigelassen. Warum wurde die Freistellungsbescheinigung von einem »SS-Ersatz-Kommando« ausgestellt? Er holt Karten hervor, sucht nach Ortsnamen, erzählt vom Frontverlauf und seinem jeweiligen Aufenthaltsort.
»Manchmal«, sagt er, »wenn es mir endlich gelungen ist einzuschlafen, träume ich von dieser Zeit.« Von bestimmten Ereignissen? »Über diese Zeit.« Was träumt er? »Daran erinnere ich mich nicht.« Sind es Angstträume? »Nein, das kann man nicht sagen, ich glaube immer, mich im Baltikum zu befinden, ich setze mich ins Boot, meine Flucht beginnt.« Was geschah während der Flucht? »Nichts, ich sitze nur im Boot.« Ist das nicht entsetzlich? »Nein, ich träume nur, dass ich dasitze.« Ist er jetzt glücklich? Er ist korrekt gekleidet, sehr zuvorkommend, es wäre zwecklos, ihm derart abstrakte Fragen zu stellen. Die Auslieferung sieht er jetzt in einem anderen Licht als früher, ohne Emotionen, er meint, dass die Schweden die Balten als eine allzu kleine Minderheit betrachtet hätten, die einen Zusammenstoß mit einer Großmacht in politisch so unruhigen Zeiten nicht wert gewesen sei. Er behauptet, vor seiner Flucht nur wenige Monate in der deutschen Wehrmacht gedient zu haben; er habe eine Freistellungsbescheinigung bei sich gehabt, aus der seine Wehrdienstuntauglichkeit hervorgegangen sei. Dies alles ist außerordentlich unklar, wie alles andere in dieser Affäre, es scheint aber dennoch mit den Angaben übereinzustimmen, die sich in den
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