Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
Vom Netzwerk:
hin und fragte, ob er etwas haben wolle. Er sah sie einen Augenblick ausdruckslos an und sagte dann »Ja«, richtete sich auf und sagte nochmals »Ja«.
    Er kann heute nicht mehr genau angeben, warum er den Hungerstreik in diesem Moment abbrach. »Es war alles so sinnlos geworden.« Immer wieder weist er darauf hin, wie unmöglich es sei, die Gefühle wiederzugeben, die ihn an diesem Abend bewegten. »Wir waren sehr traurig« – das ist alles, was er sagen kann. Zwei der Esten hatten den Streik schon beendet, sie waren ausgeschlossen, auf sie hatte man ohnehin nie gezählt. Und er selbst? Jeder Versuch, ihn zu einer näheren Präzisierung des Worts »traurig« zu bewegen, wird mit resignierendem Kopfschütteln beantwortet. »Es hatte keinen Zweck mehr. Es war alles zu Ende. Ich glaubte, dass sie uns auf jeden Fall ausliefern würden, was wir auch immer dagegen unternehmen mochten.« Welche »sie«? »Nun, die Schweden, die schwedischen Behörden.« Hielt er das denn für eine große Katastrophe? »Ich glaubte, die Russen würden uns alle erschießen.« Wer hatte das gesagt? »Das wussten wir, es stand ja in allen Zeitungen.« Lasen sie oft Zeitung? »Wir lasen soviel wie möglich, aber während des Hungerstreiks wurde uns vieles vorenthalten.« Waren sie von den Analysen der Zeitungen beeinflusst worden? »Ein wenig schon, aber wir wussten ja ohnehin sehr genau, dass wir im Fall einer Auslieferung von den Russen hingerichtet werden würden.« Woher wollten sie das wissen? Aus Gesprächen, durch Erfahrungen, Mitteilungen, woher? »Das ist schwer zu beschreiben. Wir waren so niedergeschlagen.« Was hatte die Niedergeschlagenheit hervorgerufen? Glaubten die Balten, es ließe sich in Schweden besser sterben als in der Sowjetunion? Glaubten sie, die Behörden mit dem Druckmittel der öffentlichen Meinung in Schweden beeinflussen zu können? Was bedeutet das Wort »niedergeschlagen«?
    Am 13. Dezember um 20 Uhr brach Edvard Alksnis seinen zweiundzwanzigtägigen Hungerstreik ab. Er sagte »Ja«, und Schwester Elsa stellte das Tablett auf seinen Stuhl. Sie nahm eine Tasse, füllte sie mit Kaffee, warf zwei Zuckerstückchen hinein, reichte ihm die Tasse, nahm einen Kringel und gab ihn Alksnis. Er brach ihn in zwei Stücke und aß den ersten langsam auf, während sie ihn stumm ansah. Dann setzte sie sich zu ihm auf die Bettkante; ihre Füße ließ sie in der Luft baumeln. Sie blickte über den Krankensaal hin. Es war halbdunkel, die meisten schliefen, nur einer hatte gesehen, was hier geschehen war. Dieser Mann richtete sich auf und sah Alksnis an, worauf die Schwester fragte, ob er auch etwas essen wolle. Er schüttelte aber nur den Kopf, sank wieder hin und wandte sich ab. Alksnis hatte nun den ersten Kringel aufgegessen. Sie fragte, ob er noch einen wünsche, er nickte, nahm ihn und aß ihn ebenso langsam auf. Dann trank er den Kaffee aus und gab ihr die Tasse zurück. Schwester Elsa stellte sie wieder zu den anderen auf das Tablett, lächelte ihm zu, er lächelte aber nicht zurück. Danach verließ sie das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
    Alksnis richtete sich im Bett auf.
    »Es hat doch alles keinen Zweck«, sagte er in die Stille hinein. Niemand antwortete ihm, die anderen schienen alle fest zu schlafen, aber er wusste, dass viele wach waren. Der Wachposten an der Tür sah ihn neugierig an, vertiefte sich aber gleich wieder in seine Zeitung.
    Er saß lange aufrecht und versuchte, klar zu denken. Draußen regnete es; in der Nacht zum 14. Dezember wurden in Halmstad acht Millimeter Niederschlag registriert, der Regen prasselte gegen die Fensterscheibe, die Kringel waren gut gewesen. Er sollte eigentlich schlafen, aber er wusste, dass er nicht würde einschlafen können. Das war also der Lucia-Tag; er dachte an die blinde Lichterkönigin. Die Kringel waren gut gewesen. Einen Augenblick wollte er dem Wachposten etwas sagen, nur um die Stille zu beenden, aber es hätte doch zu nichts geführt. Er legte sich hin.
    Er legte sich hin.
    Es verging eine Stunde. Dann richtete er sich halb auf und sah sich um. Er beugte sich nach rechts. Dort stand der Stuhl; er nahm den Bleistift. Er hatte den Bleistift am selben Morgen angespitzt. Alksnis blieb eine Weile aufrecht sitzen, drückte dann die stumpfe Seite des Bleistifts gegen die Handfläche der rechten Hand, führte den rechten Arm nach unten, hob seinen Kopf in die Höhe und trieb den spitzen Bleistift mit unerhörter Kraft direkt ins rechte Auge.
    Er hatte sehr gut

Weitere Kostenlose Bücher