Die Ausgelieferten
einen Pass und Zivilkleidung. Nun konnte er wieder gehen, allerdings nur mit Hilfe eines Stocks. Auf Bildern sieht man ihn oft mit einem Rasen als Hintergrund, manchmal sind es Häuser. Er trägt einen korrekten schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, Krawatte, und stützt sich auf seinen Stock; er lächelt immer in die Kamera. Sein rechtes Auge ist jetzt durch ein Glasauge ersetzt, das als solches kaum zu erkennen ist. Im Spätsommer begannen neue Gerüchte zu kursieren, Gerüchte von einer Auslieferung derer, die im Land geblieben waren. Diese Gerüchte konnten weder bestätigt noch dementiert werden.
Ende Oktober flüchtete er mit einem Fischerboot nach England. An die Flucht erinnert er sich nicht sehr gut. Ja, das Wetter sei gut gewesen. Sie liefen von Lysekil aus. Das Boot hatte sechstausend schwedische Kronen gekostet und hieß »Mathilda«. Dreitausend Kronen hatten sie selbst zusammengebracht, die restlichen dreitausend stammten von einem schwedischen Spender.
Sie verließen Schweden am 23. Oktober 1946. Der Hafen von Lysekil war leer. Es wird behauptet, das Hotel der Stadt habe an diesem Tag gebrannt. Der kurze Aufenthalt von Edvard Alksnis in Schweden war zu Ende.
Exzellenzen, schrieb der Untersucher in seinem Brief, Edvard Alksnis kann heute nicht mehr exakt sagen, warum er den Bleistift in sein Auge trieb. Er macht hilflose Versuche, eine Situation zu skizzieren, die so von Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit erfüllt ist, dass ihm nur dies zu tun blieb; es bleiben aber noch viele Punkte zu klären. Es fällt Alksnis äußerst schwer, den eigentlichen Mechanismus dieses Zustands der Verzweiflung zu beschreiben. Es scheint, als sollte man auf diesem Weg nicht weiterkommen können. Ich stimme mit Ihren Hinweisen teilweise überein: seine Angst war unbegründet, seine Befürchtungen übertrieben. Mag seine Angst auch auf falschen Prämissen beruhen, für ihn war sie real. Die Furcht war da, ebenso die totale Hoffnungslosigkeit. Wir sollten uns dies vor Augen führen, da wir die Situation geschaffen haben, die ihn vor sich hertrieb. Wir, die wir ihn internierten und ihn mit Zeitungen und Argumenten versorgten, wir, die wir diese tragische oder heroische Situation herbeigeführt haben, in der allein der Tod das würdige Ende dieser Tragödie zu sein schien, wir sollten dies wissen. Wir haben ja die Tragödie für ihn geschrieben, ihm seine Rolle vorgeschrieben und ihn dann herausfordernd betrachtet. Und als er den Bleistift nahm und in sein Auge stieß, war er es schließlich nicht selbst, der dies tat, er vollendete nur die Situation, die wir für ihn vorbereitet hatten, und spielte die Rolle, die wir ihm damit zugedacht haben. Wir haben sie geschaffen, wir alle, mögen wir für oder gegen die Auslieferung gewesen sein, wir, die wir ihm sein tragisches Schicksal vor Augen geführt und ihn bewacht haben, wir, die wir schon um seinen Tod in Sibirien getrauert und ihn einen Kriegsverbrecher genannt haben. Er hat uns nicht enttäuscht, er spielte die ihm zugedachte Rolle, nur in einem Punkt hat er uns im Stich gelassen: er überlebte. Das hätte er nicht tun sollen, darüber sind sich alle einig. Ein weiterer tragischer Selbstmord hätte die Tragödie auf die Ebene gehoben, auf der die großen internationalen Tragödien zu Hause sind. Er hätte uns nicht enttäuschen sollen.
Exzellenzen, schrieb der Untersucher, politische Vorgänge bestehen nicht nur aus Fakten, aus ideologischen oder ökonomischen Gegebenheiten, sie entstehen auch aus Gefühlen, aus Gefühlen, die aus Situationen erwachsen, aus Situationen, die aus einem Netz menschlicher Verbindungen entstanden sind, einem Spinnennetz, in dem der Mensch schließlich hängenbleibt, zwar nicht hilflos, aber doch gefangen. Ich habe in Soho einmal einer Striptease-Darbietung beigewohnt, und zwar am Vorabend meiner Begegnung mit Alksnis. Die äußeren Umstände brauche ich Ihnen wohl nicht näher zu schildern: das halbdunkle Lokal mit Holzstühlen vor einer kleinen Bühne, den an einer Schnur befestigten Vorhang, den Plattenspieler hinter der Bühne. Dann kommen sie herein, mit der ungeschlachten Grazie, die ein Produkt aus Gleichgültigkeit, Erschöpfung und Verachtung ist. Die mechanischen Gesten, die Fettpolster überfütterter Einsamkeit um ihre oft gebrauchten Leiber herum und – vor allem – die bemerkenswerte Atmosphäre austauschbarer Scham , die den Raum erfüllte. Und wir da unten: wie wir geduldig auf die nächste Nummer warteten und hartnäckig aufs
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