Die Ausgelieferten
gezielt. Im letzten Augenblick hatte er dem Kopf noch einen kräftigen Ruck gegeben. Der Bleistift bohrte sich mitten in den Augapfel.
Der Wachposten hörte den kurzen Aufschrei, sprang auf und lief an sein Bett. Edvard Alksnis war ohnmächtig geworden, aus dem Auge rann Blut, aber niemand vermochte genau zu sagen, was geschehen war. Der Arzt kam nach wenigen Minuten. Sie hatten Alksnis’ Kopf inzwischen auf ein Kissen gebettet, und als der Arzt das rechte Augenlid hochzog, sahen sie alle das sechseckige stumpfe Ende eines Bleistifts, der in voller Länge im Auge Alksnis’ steckte. Die Länge des Bleistifts wurde hinterher gemessen: sie betrug genau fünfzehn Zentimeter. Alksnis trieb den Bleistift mit voller Wucht in sein rechtes Auge und fiel dann in die Kissen zurück. Einige richteten sich bei seinem Schrei auf, der Wachposten lief herbei, aber Alksnis hörte und sah nichts mehr. Es spielte nun keine Rolle mehr, dass er zum Streikbrecher geworden war.
Er gibt an, einen Traum gehabt zu haben: zu Hause in Riga stand eine Krankenschwester an seinem Bett, sie trug eine kommunistische Uniform und sprach Lettisch mit ihm. Sie bat ihn, nach Lettland zurückzukehren. Soweit der Traum. Alksnis erzählte ihn, ohne etwas über seine Gefühle zu sagen oder einen Deutungsversuch zu machen, sagt nur, dass er genau dies geträumt habe. Sie sei nicht schön gewesen, habe ihn aber gebeten zu kommen.
Er blieb vierundzwanzig Stunden ohne Bewusstsein. Die Ärzte operierten ihn, holten den Bleistift heraus und röntgten ihn. In ihren Augen war er schon so gut wie tot. Er würde sterben. Sie legten ihn in ein besonderes »Sterbezimmer«, in dem er aufwachte, ohne sein rechtes Auge und auf einer Körperseite gelähmt. Erinnerung an das Erwachen: »Sah ein Zimmer.« »Sah Licht.« Ihm wurde eine baltische Krankenschwester zugeteilt; es war dieselbe, die in Ränneslätt gearbeitet hatte und die Eichfuss hatte heiraten wollen. Sie hieß Martha. Sie blieb eine Woche bei ihm, danach wurde sie woanders eingesetzt. Wie war sie? »Sie war ein guter Mensch.« Worüber sprachen sie miteinander? »Ich konnte nicht viel sprechen, sie saß meist still an meinem Bett.« Auf einem Foto trägt sie hochgestecktes Haar nach der Mode der vierziger Jahre, das im Nacken zu einer Rolle zusammengefasst ist. Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, legte man ihn in ein anderes Zimmer, das er mit zwei deutschen Offizieren aus Backamo teilte. Diese hatten sich selbst verstümmelt und warteten nun auf die nächste Phase der Auslieferung.
Worüber sprachen sie miteinander? Er weiß es nicht mehr, kann aber das beim Beinbrechen angewandte Verfahren genau beschreiben. Die Deutschen hatten zwei Eisenbetten zusammengestellt, den jeweiligen »Patienten« in eins der Betten gelegt; dieser ließ sein Schienbein über die Bettkante herabbaumeln, so dass das Bein direkt auf der Eisenkante des Betts lag. Anschließend hatte man die Eisenkante des zweiten Betts so auf das Schienbein gelegt, dass es gewissermaßen darauf ruhte. Dann hatte man einen kopfgroßen Stein aus etwa einem Meter Höhe auf die Kante des oberen Betts fallen lassen, wonach der Röhrenknochen sofort brach. Anschließend hatte man sofort den nächsten Soldaten ins Bett gelegt und diese Prozedur wiederholt. In diesem Raum hatten sich acht Deutsche auf diese Weise behandeln lassen. Jetzt lagen also zwei von ihnen mit Alksnis in einem Zimmer. Sie hatten einander nicht viel mehr zu sagen als die gegenseitigen Schilderungen des Beinbrechens beziehungsweise Augen-Ausstechens. Allmählich ging es allen besser, die Deutschen konnten aufstehen, nur Alksnis, der sich ein Magenleiden geholt hatte und sich einer kleineren Magenoperation unterziehen musste, konnte das Bett noch nicht verlassen. Er war noch immer einseitig gelähmt.
Für den Januar planten die Deutschen einen Fluchtversuch, den sie allerdings aufgaben, nachdem sie in letzter Minute erfahren hatten, dass sie freigelassen werden würden. Alksnis wurde später ins Lazarett von Hässleholm gebracht. Von dort beobachtete er die Auslieferung aus der Ferne. Dorthin wurde auch Leutnant Plume gebracht, der sich ein Bajonett in den Bauch gestoßen, aber dennoch überlebt hatte. Vom Fenster des Krankenzimmers aus konnte Alksnis sehen, wie der Winter dem Ende entgegenging und wie es schließlich März wurde. Von seinen Kameraden verschwand einer nach dehn anderen, bis nur noch Plume und Krumins übrigblieben.
Sie kamen in ein Sammellager; Alksnis bekam
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