Die Ausgelieferten
war ein weiß-rotes Abzeichen, das Lenin darstellte. Den russischen Text konnte er nicht lesen. Der Junge trat einen Schritt zurück und sah den Fremden forschend an, der das Abzeichen an seiner Jacke befestigte. Jetzt schwiegen alle, Eichfuss lächelte, der Schwede war den Tränen nahe, er wusste gar nicht, weshalb, aber dann begannen alle plötzlich durcheinanderzusprechen, und er überwand seine Gefühlsaufwallung – oder wie man es sonst nennen mag.
Auf jeden Fall war es jetzt Zeit zum Aufbruch.
Sie griffen Eichfuss unter die Arme. Seine Beine schienen geschwollener zu sein als je zuvor; bis zum Fahrstuhl brauchten sie fünf Minuten, und bis dieser kam, vergingen weitere drei Minuten. Schließlich schafften sie es, Eichfuss im Fahrstuhl unterzubringen, sie drückten auf den Knopf und gelangten ins Hotelvestibül, wo sich viele Menschen aufhielten. Alle drehten sich um und starrten, ebenso wie beim ersten Mal. Die Kinder folgten mit ernsten Gesichtern. Sie traten durch die Schwingtüren ins Freie, auf den Platz vor dem Hotel, wo alles begonnen hatte.
Es war jetzt schon fast elf, die Sonne schien, es war sehr heiß. Innerhalb weniger Minuten hatte sich alles in einen flirrenden Alptraum verwandelt: die beiden stillen und ernsten Frauen, die drei Kinder mit ihren unverändert ruhigen Gesichtern, Eichfuss mit seinem blauweißen, tropfenden Gesicht, seinen verbissenen, heftigen Atemzügen und seiner wilden Entschlossenheit, sich um jeden Preis vorwärtszubewegen, seiner fanatischen Entschlossenheit, zu dem Schweden zu gelangen, mit ihm zu sprechen und zu überleben, nicht zusammenzubrechen und nicht zu sterben. War er thrombosegefährdet? Wie schwer war sein Herzfehler? Was bedeuteten seine geschwollenen Beine? Der Schwede hielt ihn ständig mit dem linken Arm umfasst. Er spürte, wie Eichfuss am ganzen Körper zitterte, seine Hand war nass, er zitterte und lächelte, es war wie ein Alptraum. Es ist nicht meine Schuld, dachte der Untersucher ununterbrochen, es ist nicht meine Schuld, er hat selbst herkommen wollen, er hat selbst das Telegramm geschickt, ich habe ja nicht wissen können, wie krank er ist. Trotzdem wusste er, dass es seine Schuld war. Er hatte damit begonnen, im Leben dieser Männer herumzustochern, an ihren Schicksalen zu schnuppern, er hatte die Vergangenheit aufgerollt, er war verantwortlich. Krampfhaft hielt er Eichfuss’ Hand fest und dachte: jetzt muss ich diese Sache zu einem guten Ende bringen. Er stützt sich auf mich. Ich habe lange nach ihm gesucht und habe ihn schließlich gefunden, es ist, als wäre er Livingstone und als sähe ich endlich den Rauch aus dem Dorf aufsteigen und er käme mir entgegen. Mir wird am Ende noch gelingen, was weder die schwedische Regierung noch die russische geschafft haben: Dr. Elmars Eichfuss-Atvars umzubringen. Dazu war ich nicht nach Lettland gekommen.
Sie kamen zum Taxi. Der Fahrer war nicht da. Der älteste der Jungen ging um den Wagen herum, versuchte, die Türen zu öffnen, aber sie waren alle verschlossen. Da standen sie nun auf der Straße, hielten Eichfuss fest und konnten ihn nirgends hinsetzen, es war entsetzlich warm, Eichfuss war kreideweiß, und der Fahrer war verschwunden.
– Keine Sorge, sagte Eichfuss breiig. Sie brauchen keine Angst um mich zu haben. Versuchen Sie nur, den Fahrer aufzutreiben. Inzwischen hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die die Gruppe neugierig anstarrte. Er sah, wie E.S. über den Platz gelaufen kam: auch er hatte in Ränneslätt gesessen und war ausgeliefert worden. Dieser Mann hatte in Schweden begonnen, Schwedisch zu lernen, hatte später Schwedisch studiert, und war dem Untersucher während der Zeit in Riga eine große Hilfe gewesen. Jetzt kam er, um sich zu verabschieden. Er erkannte Eichfuss sofort wieder. Sie begrüßten sich, wechselten einige Worte und blickten sich dann stumm an. Sie hatten in Ulricehamn im selben Krankensaal gelegen, sich aber seit 1946 nicht mehr gesehen. Jetzt gab es nicht mehr viel zu sagen.
Jemand lief los, um den Fahrer zu suchen. Dies war eine völlig aberwitzige und unmögliche Situation: die Sonne brannte, es war heiß, alle schwitzten heftig, Eichfuss hing wie ein Sack zwischen ihnen, atmete schwer, lächelte aber immer noch. Dem Schweden, der jetzt auch ungeheuer schwitzte, trat plötzlich eine Vision vor Augen: ihm war, als hätte er dies alles schon früher erlebt. Während eines Augenblicks erinnerte er sich der Hitze, der Verwirrung und der Rufe in Jackson, das war
Weitere Kostenlose Bücher