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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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am Hals aufgeknöpftes Hemd. Er sprach sehr deutlich, überlegt, ökonomisch, exakt, seine kleinen Stummelfinger bewegten sich kraftvoll und beherrscht. Seine Stimme war leise und weich, aber sehr distinguiert. Während des ganzen Gesprächs blickte er dem Schweden fest in die Augen.
    Er machte sehr genaue Angaben, deren Wahrheitsgehalt allerdings zu schwanken schien. Die Wahrheit kam und ging, wie ein Nebelschwaden sich lichtet und wieder verdichtet. Seiner Stimme oder seinem Gesichtsausdruck war nicht zu entnehmen, wann er vom Fabulieren wieder zur Wahrheit überging. Die beiden Frauen saßen während der ganzen Zeit auf dem Bett und beobachteten ihn mit ruhigen und ernsten Mienen. Die Kinder saßen auf dem Fußboden. Die Blumen lagen auf dem Tisch.
    Wenn wir nur durchkommen, dachte der Schwede in einem kurzen und flüchtigen Augenblick, wenn wir dies glücklich hinter uns bringen, wenn er überlebt und alles gutgeht, werde ich wieder an einen Gott glauben.
    Die Zeit nach der Auslieferung in Trelleborg beschrieb Eichfuss mit schnellen und etwas verschwommenen allgemeinen Wendungen. An Bord der »Beloostrov« sei alles sehr gut gewesen. Man habe ihm eine eigene Offizierskabine zugeteilt (das war schon von den schwedischen Kontrolleuren in Trelleborg vermerkt worden). Die Reise sei ausgezeichnet verlaufen. Die Russen hätten sich tadellos benommen. In Liepaja habe der Registrierungsoffizier gefragt, ob er eine Familie habe, und er habe erwidert: »Familie? Mich kennt die ganze Welt! Das ist meine Familie!« Im Lager von Riga habe er ein schönes privates Zimmer mit eigener Ordonnanz bekommen, aber im Herbst, nachdem die anderen Ausgelieferten freigelassen oder in andere Lager verlegt worden seien, habe die Tscheka sich seiner angenommen und ihn in einem ganz normalen Gefängnis in Riga untergebracht, und dort sei es ihm viel schlechter gegangen.
    Hier unterbricht er den chronologischen Bericht und erzählt, dass man ihnen allen nach der Ankunft in Liepaja zugemutet habe, im russischen Rundfunk über die Verhältnisse in Schweden zu sprechen. Er habe sich jedoch geweigert. Immer wieder seien sie mit ihren Mikrophonen angerannt gekommen, aber er sei hart geblieben. Elf Monate lang hätten sie versucht, ihn weichzumachen, hätten ihm geschmeichelt und ihn zu überreden versucht, aber er habe sich geweigert. Er wolle nicht über Schweden sprechen. Einige hätten nachgegeben und sich damit Straffreiheit eingehandelt. Alle, die sich geweigert hätten, seien bestraft worden, so auch er. Nach diesen elf Monaten seien die Russen müde geworden und hätten ihn vor Gericht gebracht. Sie hätten nichts Konkretes in der Hand gehabt, so dass sie gezwungen gewesen seien, einige Anklagepunkte zu erfinden (obwohl der eigentliche Grund seine Weigerung gewesen sei, im sowjetischen Rundfunk zu sprechen).
    Der Schwede schrieb fieberhaft mit, er dachte: ich darf ihm nicht sagen, dass ich eine Abschrift seiner Rundfunkrede gelesen habe. Das ist unmöglich, das geht nicht, dann kann alles passieren.
    Bei der Gerichtsverhandlung, erzählte Eichfuss weiter, hätten sie ihn wegen Spionage angeklagt. Er solle in Schweden konterrevolutionäre Spionage betrieben und dort Agenten angeworben haben. Die Tscheka habe behauptet, er sei ein Spion. Deswegen habe man ihn verurteilt. Er habe zehn Jahre bekommen und sei in eine Stadt namens Norilsk gekommen, die im nördlichen Sibirien liege. Dort habe er als Arzt gearbeitet, es sei ungeheuerlich gewesen, niemand könne sich vorstellen, was er da durchgemacht habe. Später sei es immer besser geworden, und am Ende der Lagerzeit habe er besser gelebt als heute. 1953 sei er nach Modowien geschickt worden. 1959 habe man ihn freigelassen. Während der letzten Jahre habe er nicht mehr als Arzt arbeiten dürfen, sondern schwere körperliche Arbeit verrichtet. Nach Lettland sei er 1959 zurückgekehrt.
    Hier unterscheiden sich die Archivangaben offensichtlich von seinen eigenen. Wann hat man ihn freigelassen? Man muss jedoch ergänzen, dass es sehr häufig vorkam, dass ein Häftling formell freigelassen wurde: mit der Auflage allerdings, den Bezirk nicht zu verlassen. Viele Widersprüche scheinen in diesem Punkt zu liegen: in einer Situation, die zur Hälfte Freiheit war, die aus dem Blickwinkel des Individuums als Gefangenschaft erschien und der Verwaltung als Freiheit galt.
    Man kann hinzufügen: sein ältester Sohn ist elf Jahre alt, ist also 1956 geboren worden. Das deutet darauf hin, dass es in der Zeit

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