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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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zwischen 1954 und 1959 Unterbrechungen in der Gefangenschaft gegeben hat. Seine eigenen Aussagen sind hier unklar. »Zeitweilig befand ich mich in Freiheit.« »Ich habe eine Zeitlang auch in Moskau gewohnt.« »Die Wohnung in Moskau war sehr schlecht, ich hatte nur 9,6 Quadratmeter für mich.«
    Er kommt oft auf bestimmte Ereignisse der Zeit in Schweden zurück. Wenn es um die von ihm abgehaltenen Pressekonferenzen geht, weiß er genau Bescheid: Daten, Uhrzeit, Dauer der Pressekonferenz, Reaktionen der Zeitungen auf seine Worte. Die Auslieferung in Trelleborg beschreibt er mit kristallklarer Präzision. Die Fahrt zum Hafen, die Blumen, die Journalisten, seine Abschiedsworte, die Reaktionen auf seine Abschiedsworte. Als er davon spricht, huscht ein Lächeln über sein Gesicht, seine Augen glänzen, er spricht schneller und immer überzeugender.
    Am Ende des Gesprächs beantwortet er auch einige Fragen. Während er den Fragen lauscht, in den Augenblicken, in denen er selbst schweigt, erhält sein Gesicht einen anderen Ausdruck: er beugt sich vor, betrachtet den Fragesteller gespannt und mit einem plötzlich misstrauisch beobachtenden Ausdruck. Nachdem die Frage gestellt ist, lehnt er sich zurück, ist mit einemmal entspannt und beginnt wieder zu sprechen.
    Er sagt, er sei Marxist, allerdings theoretischer Marxist. Man habe die Marxschen Ideen verwässert. Lenin sei jedoch ein großer Mann gewesen.
    – Mein größter Fehler ist, sagt er zweimal, dass ich immer die Wahrheit sage. Ich kann nicht anders, ich muss.
    Heute arbeite er, soweit seine Kräfte es zuließen, als Übersetzer. Praktizieren könne er nicht mehr. »Sie haben mir ja meine Papiere weggenommen.«
    Zweimal während dieses Interviews machte der Untersucher deutlich, dass er ein Buch über diese Ereignisse zu schreiben gedenke. Eichfuss nickte eifrig, er hatte verstanden.
    Beiläufig machte er verschiedene Angaben, die vielleicht von einigem Interesse sind.
    – Viele hatten Angst, ausgeliefert zu werden. Einige hatten gute Gründe, sich zu fürchten, andere nicht. Einige waren nur dumm. Alksnis hätte sich den Bleistift nicht ins Auge zu treiben brauchen, er hatte nichts verbrochen und somit nichts zu befürchten. Vabulis ebenfalls nicht, er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Lapa dagegen hatte allen Grund, sich zu fürchten. Er hatte einiges auf dem Kerbholz. Ihn kann ich verstehen. Ich glaube, die Russen haben seine Eltern deportiert, ich weiß das allerdings nicht genau, und während des Krieges hatte Lapa sich dann gerächt. »Er hatte sich revanchiert.«
    Lügt Eichfuss in diesem Punkt, oder ist seine Aussage ein Indiz für die Korrektheit der Archivangaben? Wenn man unterstellt, dass er selbst nichts Kriminelles getan hat, musste er dennoch Angst haben, bestraft zu werden, oder nicht? Wieviel wusste er über die anderen? Stützte er sich auf Gerüchte oder auf genaues Wissen?
    Am Ende des knapp zweistündigen Gesprächs war Eichfuss sehr müde. Sein Gesicht, das während der ersten Stunde lebendig geworden war, das Farbe und Glanz bekommen hatte, war jetzt wieder bleich, fast blauweiß geworden. Er schwitzte heftig, obwohl das Zimmer recht kühl war, und stützte sich schwer auf seinen rechten Ellbogen. Er sprach jetzt immer schneller und hitziger, wie im Telegrammstil, um vor Ende des Interviews soviel wie möglich unterzubringen. Die Kinder, die während des gesamten Gesprächs auf dem Fußboden gesessen hatten, hatten inzwischen das Interesse an dieser Unterhaltung – von der sie ja sowieso kein Wort verstanden – verloren und blickten neugierig im Zimmer umher. Eins kletterte auf den Schoß der Mutter. Der Schwede fragte immer wieder, wie er sich fühle, aber Eichfuss wies alle Vorschläge, das Gespräch abzubrechen, mit irritierten Handbewegungen zurück. Es gehe ihm ausgezeichnet. Um ihn brauche man sich keine Sorgen zu machen. »Dieses Gespräch hat mich wieder gesund gemacht.« Es bestehe kein Grund zur Besorgnis. Er sei Arzt, er wisse Bescheid. Er wolle jetzt sprechen.
    Schließlich ließ es sich doch nicht vermeiden, das Gespräch abzubrechen: das Flugzeug sollte in anderthalb Stunden starten. Der Schwede sah Frau Eichfuss bittend an, und sie nickte. Eichfuss lächelte resigniert. Das Gespräch war beendet.
    Bevor sie das Zimmer verließen, gab es eine kleine Zeremonie. Der ältere Junge übergab dem Schweden ein kleines Abzeichen, das er in einem Pionier-Lager bekommen hatte. Jetzt schenkte er es dem schwedischen Besucher. Es

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