Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
Vom Netzwerk:
schon eine Ewigkeit her; er war neben dem Demonstrationszug auf dem Bürgersteig stehengeblieben, und in der entsetzlichen, flimmernden Hitze war ihm plötzlich klar geworden, dass er eigentlich mehr an seinem eigenen Engagement interessiert war als am Zweck der Demonstration. Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, und es hatte sich vieles verändert. Was hatte sich verändert? Die Wirklichkeit jedenfalls nicht.
    Sie hörten einen Ruf. Schließlich kam der Fahrer um eine Ecke gerannt, eine große grüne Melone in der Hand und bewegte sich ungelenk und verlegen auf uns zu, öffnete den Kofferraumdeckel, warf die Melone hinein, öffnete dann die Türen, und die gesamte Wirklichkeit schien aufzuatmen. Gemeinsam gelang es ihnen, Eichfuss in den Wagen zu schaffen. Dieser schien plötzlich neue Kräfte zu erlangen, er begann wieder zu sprechen. Er lag halb auf dem Rücksitz und sprach plötzlich mit einer neuen und völlig verblüffenden Vitalität. Er bestellte Grüße an Schweden und an alle schwedischen Freunde. Er habe Schweden geliebt, sagte er, er bestellte Grüße an die schwedischen Journalisten, dankte für das Gespräch und lächelte. Die blauweiße Farbe seines Gesichts wich allmählich, er atmete leichter und schien plötzlich völlig ruhig und gefasst zu sein. Die Kinder wurden verstaut, die Frauen nahmen Platz, und Eichfuss verstummte schließlich. Sie gaben einander die Hand. Eichfuss lächelte stumm und sah den Schweden mit seinen merkwürdig hellen und klaren Augen an. Es entstand ein seltsamer Augenblick völliger Ruhe, der Entspanntheit, des Friedens. Es gab nichts mehr zu sagen. Das Gespräch war beendet. Der Fahrer ließ den Motor an, und dann fuhren sie los.
    Das letzte, was er von Elmars Eichfuss-Atvars sah, war sein Gesicht im Rückfenster des Wagens; Eichfuss hatte sich mit einer fast verzweifelt angestrengten Bewegung umgedreht und seine Hand zum Gruß erhoben. Er war ein kleiner weißer Fleck im Rückfenster des Wagens, der immer kleiner wurde und schließlich verschwand. Er dachte, es ist doch merkwürdig, wie die Kunst die Wirklichkeit verfolgt und die Wirklichkeit die Kunst: er hatte einmal einen Roman über einen Magnetiseur geschrieben und damals geglaubt, damit von allem Irrationalen befreit zu sein. Der Magnetiseur hatte aber die Literatur verlassen und sich aufgemacht, ihn zu jagen. Hier hatte er ihn erwischt: hier, in der Sonne und der Hitze, vor dem Hotel in Riga in Lettland.
    Er stand still auf dem Bürgersteig und sah, wie der Platz vor dem Hotel sich allmählich leerte. Er fühlte plötzlich eine heftige, fast unerträgliche Erleichterung. Es ist vorbei, dachte er. Er ist nicht unter meinen Augen gestorben. Es ist vorbei. Ich bin ein unglaublicher schwedischer Egoist, ich fühle Erleichterung, es ist vorbei.
    War es eine Tragödie oder eine tragische Farce, deren er Zeuge geworden war? Oben im Hotelzimmer hatte Eichfuss ihm einige Fotos übergeben. Sie waren vor einigen Jahren in Tukums aufgenommen worden, als Eichfuss noch gesund war. Die Bilder waren idyllisch und ruhevoll, Eichfuss schien noch jung und gesund zu sein, er war auf diesen Bildern weniger fett und sah zehn Jahre jünger aus. Er spielte mit den Kindern, hatte das Mädchen in den Arm genommen, er pflückte Blumen, er saß mit seiner Frau auf einer Bank und lächelte in die Kamera. Die Bilder sprachen von einem durchschnittlichen bürgerlichen Leben, die Krankheit musste alles verändert haben. Auf einen Zettel hatte Eichfuss alles geschrieben, was mit seiner Situation zu tun hatte, und diesen Zettel hatte er den Bildern beigefügt. Das meiste hatte er schon während des Gesprächs gesagt, aber hier fanden sich auch sämtliche Diagnosen seiner Krankheit seit 1961, die Namen der Ärzte, die ihn behandelt hatten, ein Hinweis darauf, dass seine Söhne im Sommer ein Pionier-Lager besucht hätten, dass er eine staatliche Unterstützung erhielt, unter anderem für Schulgeld und anderes (seine Aufzeichnungen sind hier fast unleserlich). In einigen einleitenden Sätzen skizziert er jedoch eine dunklere Situation. »Lebe wie in einem kapitalistischen Staat. Feuchte Kellerwohnung, 18 Quadratmeter für fünf Personen, der Sohn hat Rheuma. Bin staatenlos – also ein weißer Neger.«
    Tragödie oder tragische Farce? Wohl mehr die Endphase einer Tragödie. Die Frage war nur, wo diese Tragödie begonnen hatte. In Schitomir? In Schweden? In Trelleborg? In Norilsk? Welche Rolle hatte die Auslieferung gespielt? Es war verführerisch,

Weitere Kostenlose Bücher