Die Ausgelieferten
werden.
Dies war der 17. Juli 1967, strahlende Sonne, ein unendliches Meer aus Blumen und Musik. Sie waren zu einem kurzen Besuch aus dem Westen hierhergekommen und wollten wieder nach Hause. Die meisten Mitpassagiere waren Exil-Letten, von denen die meisten ihre Heimat zum erstenmal seit Kriegsende wiedergesehen hatten. Hier lag der kleine, schmerzlich intime Berührungspunkt zwischen den beiden Völkern, die einmal ein Volk gewesen waren. Sie waren gekommen und fuhren jetzt wieder weg. Fast alle ließen Mütter und Väter zurück, Geschwister und Vettern, sie hatten sich seit dem Kriegswinter 1944/ 45 nicht mehr gesehen und trennten sich jetzt von neuem. Dreiundzwanzig Jahre der Trennung, eine Begegnung von nur wenigen Tagen, und dann hieß es wieder Abschied nehmen.
Er wusste, wie es werden würde, denn er hatte die Ankunft miterlebt. Sie standen in mehreren Reihen an der Reling, vornübergebeugt, und winkten den Menschen unten auf dem Kai zu. So würde es werden. Vor ihm weinten sie schon, besinnungslos und ohne einen Gedanken an ihre Würde, weinten in Taschentücher und Hände, die da unten winkten und riefen: Kommt wieder! Kommt wieder! Kommt wieder! Auf dem Kai mochten jetzt tausend Menschen stehen, es war Mittag, aber vom Fluss her wehte eine leichte Brise, und die Hitze war erträglich. Sie warfen Blumen. Es war nicht auszuhalten.
Dort unten sah er E. stehen, der einmal im Lager von Ränneslätt gesessen hatte, jetzt aber zu denen gehörte, die erfolgreich waren: er stand da in seinem besten dunklen Anzug, winkte und lächelte. Nein, sie würden nicht weinen, sie hatten keinen Grund. Aber die anderen? Die tausend, die jetzt dort unten standen, und die hundert, die sich aus Schweden hergewagt hatten? Das Bild schien sich beharrlich zu erweitern, er hielt ein kleines Mosaiksteinchen in der Hand, aber das Mosaiksteinchen schien zu leben, sich zu verändern, von außen beeinflusst zu werden.
Von der Seite sah er den achtzigjährigen Oberförster aus Västerås an, mit dem er sich auf der Hinreise in der Bar unterhalten hatte: dieser hatte Lettland 1944 verlassen und hatte sich jetzt endlich einmal hergewagt, um seine Schwester und seinen Bruder ein letztes Mal zu sehen, bevor er starb. Ein letztes Mal, bevor er starb. Er sah ihn von der Seite an, als das Schiff sich von der Kaimauer löste: das Gesicht des Mannes erzitterte, als würde es von innen durch eine große Unsicherheit oder Schwäche bewegt. Das ganze Gesicht zitterte, bewegte sich und fiel schließlich in einem lächerlichen, trockenen Schluchzen zusammen.
Er stand auf einem Stuhl hinter der langen Menschenreihe an der Reling, bereit, das Schluchzen des Achtzigjährigen mit dem Fotoapparat einzufangen, er wartete ab, um es noch heftiger werden zu lassen. Aber er konnte am Ende nicht auf den Knopf drücken, obwohl er sich bewusst war, dass er während der gesamten Untersuchung nichts anderes getan hatte: er hatte immer die Kamera vor dem Bauch gehabt und darauf gewartet, dass der Mensch sichtbar wurde. Er wusste, dass er auf den Auslöser drücken durfte, dass er es tun sollte, aber er konnte es nicht. Und dann vergaß er’s, denn unten auf dem Kai begannen die Menschen zu singen, ein altes lettisches Lied, dessen Text er nicht verstehen konnte. Alle sangen mit, und schließlich ertönte aus dem Lautsprecher ein Marsch. Er dachte daran, wie merkwürdig es doch sei, dass in dieser bizarren, traurigen, verrufenen, grausamen, bürokratischen und eigenartigen Sowjetunion sogar die Märsche in Moll gesetzt waren.
Und sie weinten und weinten und weinten, man konnte es nicht mehr mit ansehen, es ging nicht mehr, es ging nicht.
Er lief zur anderen Seite hinüber und setzte sich. Dort war es leer, die Sonne schien, es war wunderbar warm und schön. Die Daugava glitt langsam an ihm vorüber. Wasser, Sonne, Reflexe. Auf der anderen Seite des Flusses: Häuser, Industriebetriebe, Schiffe, Schleppkähne. Menschen. Es war, als hätte man die Wahl zwischen zwei Seiten: hier auf seiner Seite war es warm und schön, dort, auf der anderen Seite des Schiffs, winkten sie, riefen und weinten. Das Geschehen, das er zu beschreiben versucht hatte, schien unaufhörlich Gefahr zu laufen, in unkontrollierbare Gefühle aufgelöst zu werden, die man weder steuern noch verstehen konnte. Es gab eine Lebensebene, auf der die Handlungen des Menschen bewusst geschahen und wo die Ergebnisse dieser Handlungen überschaubar waren, und diese Ebene hatte er immer erreichen wollen:
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