Die Ausgelieferten
immerzu mit einem ausdruckslosen Gesicht an, nicht anders der Fahrer, den vermutlich ebenfalls irgendein Verwandtschafts- oder Nachbarschaftsverhältnis mit Eichfuss verband. Und dann standen da noch drei kleine Kinder, zwei Jungen und ein kleines Mädchen. Der älteste Junge mochte elf sein, das Mädchen vier oder fünf. Die Jungen trugen dunkle Anzüge, man hatte sie offensichtlich in den Sonntagsstaat gesteckt. Der ältere Junge hatte einen Blumenstrauß in der Hand, große Gladiolen. Eichfuss winkte ihn sofort heran. Der Junge näherte sich dem Schweden, blickte ihn ernst an und reichte ihm die Blumen, wobei er etwas sagte, das der Schwede nicht verstand.
Die Gruppe neben dem Wagen lächelte den Schweden jetzt freundlich an.
Sie begannen zu sprechen. Eichfuss begrüßte ihn und lächelte, stellte die Umstehenden vor. Die drei Kinder waren seine eigenen, er sagte, er schätze sich glücklich, mit einem Schweden sprechen zu können. Er sei lange krank gewesen, aber diese Nachricht habe ihn wieder auf die Beine gebracht, weil er sich gern mit dem schwedischen Journalisten unterhalten wollte. Seine Beine waren geschwollen, er trug Sandalen an den Füßen, erklärte aber eifrig, dass er gehen könne, man brauche sich um ihn keine Sorgen zu machen.
Er brauche nur ein wenig Hilfe, das sei alles. Sie sollten ins Hotel gehen, er brauche beim Gehen eine Stütze, das sei alles. Es gehe ihm ausgezeichnet.
Sie bekamen ihn auf die Beine und konnten losgehen. Er hatte sich von seinem Krankenlager in Tukums erhoben, auf dem er vier Monate gelegen hatte. Er war aufgestanden, um den Schweden zu sehen, weil er gerade diesen Schweden treffen wollte, er hatte die sechzig Kilometer lange Fahrt auf sich genommen, und jetzt ging er, oder, richtiger gesagt, jetzt wurde er ins Hotel geschleift. Sie betraten das Hotel durch den Haupteingang, die ganze Gesellschaft, alle Gespräche verstummten, alle Tätigkeit stockte, weil jeder sich diesen merkwürdigen Zug ansehen wollte. Eichfuss’ Gesicht war kreideweiß, er schwitzte heftig, bewegte sich aber mit einer stillen kalten Wut vorwärts. Er war wild entschlossen, nicht schlappzumachen. Er war nach Riga gekommen, um den Schweden zu sehen, und jetzt konnte ihn nichts, nichts mehr aufhalten. Er atmete mit kurzen, heftigen Zügen, sein Gesicht war bleich, aber seine Augen hatten einen entrückten Glanz, er wollte weiter, wollte endlich ankommen. Sie bewegten sich sehr langsam vorwärts; auf der anderen Seite ging der Fahrer, der den Schweden sofort um das Fahrgeld gebeten und es auch bekommen hatte. Offensichtlich hatte er sich darum gesorgt und die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Hinter ihnen folgten die Ehefrau, die Schwägerin und die Kinder in einer langen Reihe. Der älteste Junge hatte die Blumen wieder an sich genommen, der Strauß war so groß, dass der Kleine dahinter fast verschwand. Er sah sich mit neugierigen großen Augen um. Um die merkwürdige Karawane herum bildete sich sogleich ein Halbkreis neugieriger Menschen. Es gelang ihnen, Eichfuss in den Fahrstuhl zu bugsieren, und sie drückten auf den Knopf. Jetzt hatten sie es nicht mehr weit. Sie schoben ihn ins Zimmer und setzten ihn auf einen Stuhl. Da saß er nun, er lebte, er lächelte Er winkte einer der Frauen, die ihm sofort eine Flasche mit dunklem Inhalt gab; es konnte Medizin sein, aber genausogut Schnaps.
Eichfuss nahm die Flasche in die rechte Hand, setzte sie an den Mund und trank gurgelnd ein Drittel des Inhalts aus, trocknete sich die Stirn mit einem Taschentuch, blickte den Schweden mit seinen hellblauen, merkwürdig klaren und tiefliegenden Augen an und begann zu sprechen. Er sprach ein fließendes und ausgezeichnetes Deutsch. Eine Stunde und zehn Minuten lang redete er ununterbrochen, erst dann ließ er sich durch eine Frage unterbrechen.
Er begann mit der vergangenen Zeit in Schweden, kam aber immer wieder auf seine gegenwärtige Lage zurück. Er sagte, er wohne in einer feuchten Kellerwohnung, in einem Raum von nur achtzehn Quadratmetern, sein ältester Sohn habe schon Rheuma bekommen, er zeigte auf den schüchtern und verlegen grinsenden Jungen, der dies alles für ein spannendes Abenteuer zu halten schien. Er zeigte auf seine Frau und auf seine Kleidung: er sei arm, erklärte er, er lebe unter miserablen Umständen, sie müssten vom Lohn seiner Frau leben, der bloß 65 Rubel betrage, es gehe ihnen schlecht. Sie lebten in der Nähe des Existenzminimums. Er selbst trug weite, sackähnliche Hosen und ein
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