Die Ausgelieferten
Glied. Sie tragen Gepäck. Links auf dem Bild erkennt man den hinteren Teil eines Busses. Die Qualität dieser Aufnahme ist die schlechteste der ganzen Sammlung. Das Bild ist offenbar am frühen Morgen aufgenommen worden. Es ist diesig oder leicht regnerisch, das Bild ist wie mit einem grauen Schleier überzogen.
Dies alles befindet sich noch im Archiv des Lagerchefs; dort ist außerdem noch, unter vielen anderen Dingen, ein rechteckiger Zettel mit einer Langseite von etwa fünfzehn Zentimetern. In den Ecken sieht man kleine Löcher von Reißzwecken oder Stecknadeln. Der Zettel kann von einer Anschlagtafel oder einem Schwarzen Brett stammen. Der Text ist in deutscher Sprache abgefasst:
»Kameraden!! Bereitet der uns freundlich gesinnten schwedischen Bevölkerung keine Schwierigkeiten politischer Art. Entfernt deshalb alle Hoheits- und Rangabzeichen.«
Der Zettel ist handgeschrieben, mit Tinte. Die Handschrift ist senkrecht, kräftig und sehr charakteristisch; eine Unterschrift fehlt. Es ist nicht schwer, im nachhinein den Urheber ausfindig zu machen: Dr. Elmars Eichfuss-Atvars.
Die Vorgeschichte ist folgende.
Die erste Zeit in Schweden muss für die Soldaten sehr überraschend gewesen sein mit ihren pastoralen Farben, der kleinbürgerlichen Lageratmosphäre, der Haltung des Wachpersonals und der reichlichen Nahrung. »Das Regime war mild«, schrieben sie später in ihren Briefen, und das Regime war in der Tat mild. Sie konnten Ausflüge machen, Pilze sammeln und Spaziergänge unter höchst unzulänglicher Bewachung unternehmen: sie waren ja nur in einem Durchgangslager, in dem sie auf den Transport nach Westdeutschland oder auf die Freilassung warteten. Dieser Sommer auf Gotland war sehr schön; sie spielten Fußball, bauten ein Freilichttheater, sie arbeiteten an einem Sportplatz, und mit diesen Beschäftigungen ging der Frühsommer dahin, ohne dass jemand einen Fluchtversuch unternommen hätte, obwohl dies sehr leicht gewesen wäre.
Aber bald nach ihrer Ankunft im Lager begannen die ersten Unruhen. Anlässe gab es genug. Einige Deutsche waren allzu früh, am 4. und 5. Mai, von der Ostfront nach Gotland geflohen. Nachdem sie aus der deutschen Armee desertiert waren, und als zwischen dem 9. und dem 14. Mai der große Flüchtlingsstrom ins Lager kam, gab es sogleich Zusammenstöße. Die Deserteure wurden unverzüglich vor ein improvisiertes Lager-Kriegsgericht gestellt und schnell zum Tode verurteilt: es gelang der schwedischen Lagerleitung jedoch, die Hinrichtungen zu verhindern. Diese Ereignisse hatten zur Folge, dass im Lager das erste Sonderlager eingerichtet wurde: das Lager für die Deserteure. Sie wurden später in den Lagerlisten unter dem Buchstaben D zusammengefasst, sie wurden zu anderen Zeiten verpflegt als die übrigen, kamen nie mit den anderen Soldaten in Berührung. Sie lebten in einer Welt für sich. Später kamen noch andere Konflikte hinzu: zwischen Deutschen und Österreichern, Deutschen und Polen, Deutschen und Balten, zwischen Offizieren und Mannschaften; mitunter gab es auch, obwohl dies außergewöhnlich und aufsehenerregend war, ideologische Konflikte. Die ideologische Struktur der Truppe war noch weitgehend intakt, es waren Elitetruppen, die nach Schweden gekommen waren, viele SS-Angehörige waren hier, und eine echte Opposition gegen den Nazismus gab es nicht.
Oft fragten sie die Schweden, was aus ihnen werden solle. Schon Ende Mai wurden die ersten Anfragen an den Verteidigungsstab gerichtet: Anfragen, die die Rechtsstellung der Lagerinsassen betrafen. Am 20. Juli kam vom Verteidigungsstab eine schriftliche Antwort, die dem Vertrauensmann der Internierten zu deren Orientierung mitgeteilt wurde. Dieser Bescheid ist heute eine Geheimakte. Die damalige Reaktion der Lagerinsassen war jedoch klar: »Diese Nachricht übte auf die Stimmung im Lager einen beruhigenden Einfluss aus.«
Eichfuss wurde unmittelbar und ohne Diskussion der Sprecher der Balten. Er sprach ein ausgezeichnetes Deutsch. Im Verlauf weniger Stunden gewann er das Vertrauen der schwedischen Lagerleitung, er wohnte mit den Balten zusammen, konnte sich aber auffallend ungehindert bewegen. Vom Vertrauensmann der Deutschen wurde er zur Mitarbeit an der Lagerzeitung herangezogen, und obwohl der baltische Teil des Lagers bald zu einer gesonderten Abteilung gemacht wurde, nochmals eingezäunt und von Sonderposten bewacht, konnte Eichfuss sich ungehindert bewegen. Anfang Juni stand er an der Spitze einer Aktion, die sich gegen
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