Die Ausgelieferten
Abfallkörbe. Es war fast wie in Schweden. Er ging zurück ins Hotel, packte, bezahlte und ging hinaus. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er setzte sich auf den Bürgersteig und lehnte gegen eine Hauswand, bis ein Polizeiauto vorbeikam, anhielt und die Beamten ihn fragten, was zum Teufel er hier zu suchen habe. Er stand auf und ging weiter. Dann und wann brausten offene Sportwagen vorüber, sie waren mit Jugendlichen, Weißen, beladen, die die Föderationsflagge schwenkten und ein Triumphgeschrei ausstießen, wenn sie einen Farbigen entdeckten. Morgen würde wieder ihre Stunde schlagen, sie würden sich zu rächen wissen. Heute hatten sie den Ereignissen den Rücken gekehrt und die Gefühle sich austoben lassen. Jetzt hatten die Gemüter sich beruhigt, die Schwarzen waren wieder in ihren Löchern verschwunden, hatten sich verkrochen, und die Liberalen waren wieder in die Traumstaaten des Nordens abgereist. Morgen würde die Welt wieder ihnen gehören. Die Dunkelheit war lau und angenehm, er bewegte sich in einer leisen Stadt. Die Stille ähnelte der, die einer Katastrophe folgt, er hatte derlei noch nie gehört. Er versuchte, klar zu denken oder wenigstens an irgend etwas zu denken, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Schließlich machte er sich auf den Weg zum Busbahnhof, das war das einzige, was ihm noch zu tun blieb. Tennessee, dann New York, dann nach Hause.
Vor dem Busbahnhof setzte er sich auf eine Bank und sah die Wagen vorübergleiten. Sein Kopf war wie leergeblasen. Ich bin vielleicht müde, dachte er träge. Es liegt aber nicht an der Enttäuschung. Ich habe niemanden im Stich gelassen. Ich bin genauso, wie ich vorher gewesen bin. Ich bin nur müde. Ich habe einen langen Weg hinter mir. Es war sehr warm hier.
Nachdem er drei Gläser mit der reinen, weichen Flüssigkeit, die man Whisky nennt, getrunken hatte, erstanden die Figuren deutlicher vor seinem Auge. Ihre Gesichter waren fassbarer geworden, hatten Gestalt angenommen. Sie hatten aufgehört, über den Marsch zu diskutieren, er hatte keinen festen Standort, von dem er hätte ausgehen können. Alles, was er vorbrachte, schien nach moralinsaurer Besserwisserei zu klingen. Das aber entsprach nicht seinen ursprünglichen Intentionen. Er erinnerte sich an eine andere Demonstration, deren er Zeuge geworden war, in New York. Sie hatte vor gut einer Woche stattgefunden.
Jeden Nachmittag gegen fünf Uhr kamen vier Knaben ins Zentrum von Greenwich Village, packten ihre Klamotten aus und blieben drei Stunden auf dem Bürgersteig stehen. Sie bauten einen kleinen Stand auf, mit verbrannten Puppen, Übersetzungen der Werke von Mao und Ho Chi Minh, Dokumenten über den Vietnam-Krieg und einigen Plakaten. Drei Wochen lang erschienen sie jeden Tag an derselben Stelle. Nach einigen Minuten pflegten sich einige Menschen einzufinden, sie bildeten einen Kreis um den Stand, worauf die obligatorische Diskussion in Gang kommen konnte. Unzählige Male wohnte er diesem Schauspiel bei; der Ablauf war routinemäßig. Zuerst gab es eine Diskussion, dann Ärger, den vier Burschen wurden Prügel angedroht, einmal wurde einer von ihnen niedergeschlagen, dann kam die Polizei, es gab eine neuerliche Diskussion, Protokolle wurden aufgenommen, Flugblätter verteilt, es wurde von neuem diskutiert, die Polizisten fuhren wieder weg, und gegen Abend packten die vier ihre Sachen ein und fuhren nach Hause.
Er sah diesem Schauspiel oft zu und dachte, eigentlich habe ich Menschen noch nie so bewundert wie diese vier Burschen. Ihre Gefühle müssen schon nach den ersten Wochen abgestumpft sein, und jetzt bleibt ihnen nur eine unfassbare Sachlichkeit. Sie stellen sich hin, lassen sich als schwachsinnig und als rote Schweine beschimpfen, man spuckt sie an und schlägt sie auf die Schnauze, und danach gehen sie nach Hause und rechnen nach, wie viele Flugblätter sie haben verteilen können.
Obwohl eigentlich: wie konnte er völlig sicher sein, dass ihnen Tatsachen wichtiger waren als ihr eigenes Engagement? Immerhin, sie waren zu bewundern.
Und jetzt sollten sie hier in Oak Ridge essen und dann über andere Dinge diskutieren, und dann sollte er wieder nach Hause fahren: zu was heimkehren? Zu welchen Problemen? Wo sollte er anfangen? An welchem Ende sollte er welches Knäuel aufrollen? Ingrid kam mit einem Tablett voller Teller aus der Küche, sie sah immer noch sehr schwedisch aus, auf eine hilflose Weise, mit der er nichts Rechtes anzufangen wusste: Herrgott, dachte er, ich muss genauso
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