Die Ausgelieferten
das Essen, vor allem gegen das allzu süße Brot richtete: er verließ das Büro des schwedischen Lagerchefs als Sieger und mit neuer Autorität.
Auf allen noch vorhandenen Fotos unterscheidet er sich von den anderen Soldaten auf markante Weise.
Seine Kleidung hat keinen Uniformcharakter. Er hat ein Hemd an und eine Krawatte, darüber ein etwas gröberes Hemd, das er in die Hose gesteckt hat. Er trägt einen breiten Ledergürtel. Er macht einen höchst zivilen Eindruck, hat einen Bart und trägt niemals einen Hut.
Am 2. Juli 1945 wurde der Hauptteil des baltischen Kontingents in das Martebo-Moor geschickt, um während des Sommers Torf zu stechen. Drei Tage später kehrten sie jedoch alle zurück.
Sie kamen am Abend des 2. Juli in Martebo an. Sie trugen deutsche Uniformen. Durch »ein Versehen« brachte man sie direkt zu den Unterkünften der schwedischen Arbeiter. Die Busse fuhren vor den Baracken vor, die Schweden standen an den Fenstern und vor den Türen und sahen zu, wie die Soldaten ausgeladen wurden. Die Stimmung unter den Internierten war gut. Gegen 19 Uhr traten die schwedischen Arbeiter zu einer Beratung zusammen, sie schlossen sich in einer Kantine ein und kamen nach einer Stunde mit einer Resolution heraus. Sie erklärten, dass die Internierten Nazis seien, dass sie keine Lust hätten, mit Nazis zusammenzuarbeiten und dass sie sofort kündigen würden, falls die Internierten nicht gleich wieder entfernt würden.
Die Resolution wurde einem der Ingenieure der Slite Cement AG, Walter Wredenfors, übergeben. Er las das Papier und bat für den kommenden Morgen Vertreter aller Beteiligten zu einer Besprechung. Anwesend waren ein schwedischer und zwei deutsche Offiziere, zehn schwedische Arbeiter, der schwedische Ingenieur sowie Elmars Eichfuss-Atvars.
Eichfuss hielt eine Rede, die simultan übersetzt wurde. Er sprach von den lettischen Internierten als Patrioten und von ihrem Antinazismus. Die Rede dauerte fünfzehn Minuten. Alle saßen still da und sahen ihn unentwegt an. Eichfuss selbst machte einen ruhigen und gelösten Eindruck; er sprach mit fester Stimme und blickte seine Zuhörer mit seinen klaren, hellblauen Augen an. Seiner Rede hatte keiner der schwedischen Arbeiter irgend etwas hinzuzufügen. Sie waren bereit, die lettischen Mitarbeiter zu akzeptieren.
Die Zusammenkunft war um 9 Uhr zu Ende. Wenig später kam vom Militärbefehlshaber auf Gotland die Weisung, die Balten wieder nach Havdhem zurückzubringen: man hatte ihm über den Zwischenfall berichtet.
Eichfuss stand neben dem Bus und sah den Vorbereitungen zum Abtransport ruhig zu. Er war guter Laune und unterhielt sich freundlich mit dem schwedischen Offizier, der die Rückfahrt zu überwachen hatte.
– Das war eine ausgezeichnete Rede, hob der Offizier hervor. Sie hat großen Eindruck gemacht, die Stimmung schlug ja fast sofort um.
– Das war sehr leicht, erwiderte Eichfuss ernst. Ich habe nur die Wahrheit gesagt, wie ich es immer zu tun pflege. Sonst würde es sehr schwierig sein, bei einem widerstrebenden Auditorium einen Umschwung herbeizuführen. Manche haben diese Kunst allerdings meisterhaft beherrscht. Marx zum Beispiel wurde im Revolutionsjahr 1848 verhaftet und angeklagt, weil er zum Aufruhr angestiftet haben sollte. Ich glaube, das war in Köln. Bei seiner Vernehmung vor Gericht nutzte er die Chance, in einer langen und ausführlichen Rede über die ökonomische und soziale Situation in Deutschland und dem Ausland zu sprechen. Der Vorsitzende dankte ihm in aller Öffentlichkeit für seine interessante und instruktive Vorlesung, die dem Gericht von großem Nutzen gewesen sei. Ein recht unerwartetes Ergebnis, nicht wahr?
– Allerdings, sagte der Offizier.
– Außerdem wurde er selbstverständlich freigesprochen, fügte Eichfuss hinzu.
– Darüber, sagte der schwedische Offizier steif, weiß ich nichts. Aber Eichfuss war schon dabei, in den Bus zu klettern. Die Balten kamen am selben Abend wieder in Havdhem an.
Für interne Mitteilungen gab es im Lager ein Schwarzes Brett. Am nächsten Morgen ging Eichfuss mit einem Zettel dorthin, einer Mitteilung, die mit Tinte geschrieben war, in seiner charakteristischen gespreizten Handschrift, aber keine Unterschrift trug.
Seine Aufforderung wurde noch am selben Tag von allen gelesen, und am Abend trafen sie sich zu einer Debatte darüber. Eichfuss hatte die Jüngeren auf seiner Seite, die gern alle Rangabzeichen entfernen wollten, aber die Offiziere brachten diesem Ansinnen nur
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