Die Ausgelieferten
aussehen wie sie, ebenso hilflos, obgleich ich mit einem dünnen Anstrich von etwas größerer Tüchtigkeit und klarer erkennbarer Moralität versehen bin. Was aber sollte er aufschneiden? Welche Beulen? Er hatte ja lange genug in seinen privaten Furunkeln herumgestochert, bis der Schmerz verschwunden und nur noch Genuss übriggeblieben war. Und jetzt?
Sie wollten auf dem Balkon essen. Er ging an die Brüstung und sah durch die Bäume in die Dunkelheit hinaus. Diese verdammte Hitze, dachte er. Sie macht mich stumpf und unsicher, lässt mich die falschen Dinge sagen. Unbeweglich sah er in die summende Dunkelheit hinaus. Hinter ihm loderte ein kleines Feuer auf, er hörte das zischende Geräusch bratenden Fleisches, bald würde das Essen fertig sein. Sie würden essen und gut zueinander sein, und bald würde alles vergessen sein, die Tage würden alle Wunden heilen, er würde keine Narben zurückbehalten, Sicherheit und Zuversicht würden wiederkehren, er würde das Gefühl der Verlorenheit eher interessant als erschreckend finden, in zunehmendem Maße sollte er dieses Gefühl formulieren und ihm dadurch jeden Schrecken nehmen. Er hatte bereits damit begonnen. »Es gibt eine Einsicht, die nur eine Ausdrucksform für Selbstmitleid und Apathie ist«, dachte er. Eine schöne Formulierung, sehr gut. »Eine Apathie, die einer allzu privaten Reaktion aus Furcht und Unverständnis entspringt« – das klang noch besser, obwohl etwas schwerfällig.
Dennoch wusste er, dass keine Formulierung je imstande sein könnte, die heftige und undeutliche Einsicht zu vernichten, die den Bodensatz seiner Erlebnisse bildete und ihn in seiner Eigenschaft als politisches Wesen von Grund auf verändern sollte. Das Feuer hinter ihm loderte spielerisch, das Schweigen war tief und summend, jemand kam von hinten auf ihn zu, stellte sich neben ihn an die Brüstung und sah in die Dunkelheit hinaus.
Er stand still da, ohne seine Gefühle länger zu formulieren, und hielt das Gefühl unerbittlich und schweigend fest, ein Gefühl, das ihn nie mehr ganz verlassen sollte.
Zehn Tage später war er wieder zu Hause. Er begann seine Arbeit in einer Bibliothek, ackerte sich durch die Oberflächenschicht des Sachverhalts. Und war gefangen. Jede Untersuchung hat einen Ausgangspunkt. Dies ist einer davon. Ein Beginn, die Auslieferung der Balten zu untersuchen.
4
A m 24. Mai 1945 wurde die Öffentlichkeit zum erstenmal über das Flüchtlingsproblem in Kenntnis gesetzt; der Chef des Verteidigungsstabs veröffentlichte die erste Verlautbarung, über die praktisch alle schwedischen Zeitungen berichteten, oft auf der ersten Seite. In diesem Bericht wird zum erstenmal festgestellt (abgesehen von Berichten der Lokalzeitungen), dass sich unter den internierten deutschen Soldaten auch Balten befinden. Der Bericht ist detailliert, er gibt eine Übersicht über die Entwicklung des Flüchtlingsproblems und informiert über die Zahl der Internierten. Es sind im Augenblick etwa 3200 Mann, die, überall in Schweden, in Lagern untergebracht sind.
Dem Bericht zufolge geht alles, von manchen Ausnahmen abgesehen, planmäßig und reibungslos vonstatten. »Es hat jedoch einige kleinere Zwischenfälle gegeben. Sie beruhen auf politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Reichsdeutschen, Österreichern, Sudetendeutschen, Polen, Esten etc. Es ist natürlich wünschenswert, dass die Internierten möglichst bald in ihre jeweiligen Heimatländer zurückgebracht werden. Insoweit kommt es hauptsächlich darauf an, dass das Außenministerium mit den Alliierten den Zeitpunkt und die Modalitäten des Transports vereinbart. Vermutlich lässt sich über diese Dinge keine Klarheit gewinnen, bevor eine interalliierte Kommission eingesetzt und eine endgültige Entscheidung getroffen worden ist.«
Von seiten des Verteidigungsstabs wird selbstverständlich kein Versuch unternommen, die Ausdrücke »in ihre jeweiligen Heimatländer zurückgebracht« oder »interalliierte Kommission« näher zu erläutern.
5
Hemse, den 2.6.1945. Hiermit verpflichte ich mich, Bilder aus dem Lager in Havdhem, die mir zur Entwicklung und Vergrößerung übergeben worden sind, weder einer allgemeinen Einsicht, irgendwelchen Zeitungen und Zeitschriften noch sonstwie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, da die betreffenden Photos für jeden aufrechten Schweden ohne jedes Interesse sind.
Hemse, wie oben
(Name)
Photograph
Schwedischer Patriot und Angehöriger der politischen Rechten
D ie Bilder aus
Weitere Kostenlose Bücher