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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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breiter und immer amüsierter, und dann sagte:
    – Du bist zu ungeduldig. Wir haben erst Juni.
    Am 15. Juli betrat der stellvertretende Lagerkommandant das Lagerbüro, ließ sich an seiner Schreibmaschine nieder und sagte:
    – Aus diesem Eichfuss werde ich nicht schlau. Wenn ich mit den Deutschen spreche und er in der Nähe ist, stellt er sich gern als deutschen Offizier hin, und niemand widerspricht. Sonst ist er immer ein lettischer Freiheitskämpfer. Er führt ständig Zitate von Marx und Lenin im Munde, heute aber kam er mit einem bemerkenswerten Zitat aus »Mein Kampf« an. Es hatte irgend etwas mit der Empfänglichkeit der Menschen für Propaganda zu tun: Hitler soll gesagt haben, dass es unzweckmäßig sei, einen Menschen am Vormittag beeinflussen zu wollen, dagegen sehr empfehlenswert, Begegnungen zur Abendzeit zu arrangieren. Abends sollen Menschen »für einen stärkeren Willen empfänglich« sein, wie er sich ausdrückte. Kann das stimmen?
    – Fragen Sie keinen einfachen Sergeanten, erwiderte dieser.
    Der Leutnant blätterte gedankenvoll in der Kartei.
    – Zum Zeitpunkt der Registrierung waren die Brüder nicht sehr redselig, sagte er. Elmars Eichfuss-Atvars. Geboren in Riga. Anschrift Widzemes 225 11 . Die Frau heißt Leontine. Wohnt in Pommern. Pommern? Warum zum Teufel wohnt sie in Pommern? Er hat als Gefreiter einer Stabsabteilung gedient. Arzt. Was ist das eigentlich, »Gefreiter«?
    – Korporal, sagte der Sergeant. Oder Sergeant, ich weiß es nicht genau.
    – Sie fassen sich reichlich kurz, wenn sie hierherkommen, fuhr der Leutnant fort. Wir wissen wirklich nicht viel über sie. Hören Sie mal zu. Peter Ziemelis. Leutnant der SS in Ventspils. Ventspils? Liegt das nicht am Meer? Was hat ein SS-Leutnant am Meer zu suchen gehabt? Hätte er nicht an der Front sein sollen?
    – Sie werden wohl auch hinter der Front ihre Probleme gehabt haben.
    Die Dokumente aus dem Lager sind voller Bemerkungen, nachlässig hingeworfener Andeutungen, Fakten, Erklärungen, Befehle, Namen, Daten. Über die Zeit vor der Ankunft der Flüchtlinge, über die Kriegsjahre und über Lebensläufe einzelner findet sich jedoch fast nichts. Alle, ohne Ausnahme, haben es vermieden, über diese Zeit zu sprechen, die Angaben sind lakonisch oder ausweichend, mitunter sogar offenkundig falsch oder absurd. Das gilt für Deutsche wie für Balten.
    In den Namenlisten werden manchmal kleine Versuche gemacht, die Internierten zu charakterisieren; irgend jemand von der schwedischen Lagerleitung hat hier die Feder geführt. Mitunter beschränken sich die Angaben auf ein einfaches »D« für Deserteur; der einzige Balte unter ihnen ist Johannes Indress. Mitunter sind die Angaben auch persönlicher, klarer. »Netter Kerl« oder »Sadist« oder »tüchtiger Mechaniker«. Über Oberstleutnant Gailitis, den neuen Vertrauensmann der Balten, ist nur vermerkt: »Hat in Stutthof Dienst getan« und dahinter, in Klammern, »(Konz.-Lag.)«.
    Eichfuss hingegen ist mit einer sprechenderen Anmerkung bedacht worden, die mit einem dicken, wütenden Strich betont wird. Hinter seinem Namen steht: »Echter Lümmel, Intrigant, falscher Fuffziger«.

6
    »Man darf nicht vergessen, dass früher ein anderer Geist geherrscht hat.«
    I m April 1945 betrug die Zahl der Flüchtlinge in Schweden 104.682, von denen 36.154 Balten waren. Zum Hintergrund der Auslieferung der Balten gehört auch die Haltung, die man Flüchtlingen früher entgegengebracht hatte. Es waren also 104.682 Personen, eine recht beachtliche Zahl. Im Mai 1945 hielten sich insgesamt 195.000 Ausländer (also nicht nur Flüchtlinge) in Schweden auf.
    Praxis, Flüchtlingspolitik. Hintergründe. Die Hintergründe sind sehr wichtig: es kommt darauf an, welchen man wählt.
    Es standen viele Hintergründe zur Auswahl. Nach kurzer Zeit bereits schien der Untersucher mit einer Art von Karteikartensystem dazusitzen, mit austauschbaren Hintergründen und auswechselbaren Kulissen, die man je nach Laune, Stimmung, politischer Couleur, Gereiztheit hier- oder dorthin setzen konnte. Mit jedem Tausch, bei jedem Versuch, einen Zusammenhang zu erkennen, glaubte er, ein weiteres Leck in den Kahn der Exaktheit zu schießen. Vor ihm wuchs ein Berg von Zetteln, Andeutungen, Fakten, Widersprüchen und Bildern; die Bilder zogen an seinem Auge vorüber, es gab keinen festen Zusammenhang, die ganze Affäre erschien launisch und chaotisch, es war zwecklos, Muster und Interdependenzen erkennen zu wollen. Zugleich wusste er ja,

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