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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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völliges Unverständnis entgegen.
    Es war ein sehr warmer Sommer mit viel Sonne und frischer Luft. Außerdem war Friede in der Welt. Dies alles ist ein Bestandteil des Gesamtbildes: wie kleine Zwischenfälle immer größer werden und sich schließlich zu einer großen Krise auswachsen. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu. Die Lagerinsassen müssen gemerkt haben, wie etwas angeflogen kam, allmählich und unmerklich, ein kühler Windhauch, eine schleichende Krankheit, eine Pest, die sie unverschuldet traf. Sie merkten plötzlich, dass ihre Popularität außerhalb des Lagers nicht groß war und dazu noch abzunehmen schien. Sie empfanden diesen Stimmungsumschwang als kalten Wind, und über ihre Gespräche mit den schwedischen Offizieren zu diesem Thema sollten sie später noch oft berichten. Über ihre Versuche, ihre delikate Stellung in der schwedischen Öffentlichkeit zu erklären. Dies waren der Frühling und der Sommer der entdeckten Konzentrationslager, der Sommer, in dem Europa mit Bildern von Gaskammern und Leichenhaufen überschwemmt wurde. Es war ein warmer, trockener und ruhiger Sommer mit vielen Bildern in den Zeitungen und Zeitschriften. Diese Tatsache darf nicht unerwähnt bleiben.
    Eichfuss hielt noch eine weitere Rede. Er sagte, dass es sehr wichtig sei, dass die Balten sich keine politischen Ungelegenheiten bereiteten. Die meisten stimmten mit seinen Ansichten überein. Sie entfernten ihre Rangabzeichen, die SS-Zeichen und -Embleme, und am nächsten Tag sah die schwedische Lagerleitung, was geschehen war.
    Über den weiteren Verlauf der Dinge gibt es mehrere Versionen. Die folgende stellt einen Querschnitt durch alle dar.
    Der schwedische Lagerchef zu jener Zeit war ein Mann namens Lindeborg. Er befahl den Balten, ihre Rangabzeichen sofort wieder anzunähen, aber nur ein knappes Drittel kam seiner Forderung nach. Die übrigen erklärten, sie hätten sie verloren. Unterstützt wurden sie von Eichfuss, der heftig agitierte und erklärte, der schwedische Lagerkommandant habe kein Recht, solche Befehle zu erteilen.
    Am 10. Juni bestellte Lindeborg Eichfuss zu sich in sein Büro. Das Gespräch dauerte eine Stunde; danach kamen beide heraus, und Lindeborg ließ sämtliche Balten antreten. Es war ein schöner Tag, keine Wolke am Himmel, die Sonne brannte; die Balten traten vor ihren Zelten in der »Sonderabteilung« des Lagers an. Dort wuchs kein Gras mehr, der Boden war sandig, und Staubwolken wirbelten hoch. Es war Mittagszeit und sehr heiß. Die Rede des Lagerchefs war sehr kurz. Er stellte fest, dass Eichfuss gegen die Regeln der Disziplin verstoßen habe. Seine beständige Agitation habe dazu geführt, dass er sich mit sofortiger Wirkung nicht mehr als Sprecher der Balten gegenüber der Lagerleitung betrachten könne. Er fragte, ob Eichfuss verstanden habe. Dieser, der recht weit hinten stand, antwortete sofort mit Ja, worauf sich die meisten umwandten und ihn ansahen. Lindeborg erklärte, in Zukunft werde Oberstleutnant Gailitis Vertrauensmann der Balten sein, das Mandat sei also mit sofortiger Wirkung auf ihn übergegangen. Darauf kommandierte Lindeborg »Rührt euch!«
    Das alles mochte höchstens fünf Minuten gedauert haben.
    Es war noch Mittagszeit und lange hin bis zur nächsten Mahlzeit. Eichfuss ging sofort in sein Zelt, ohne mit jemandem zu sprechen. Als die anderen nachkamen, saß er schon auf seinem Bett und zog sich die Schuhe aus. Dann legte er sich aufs Bett und steckte seine Pfeife in den Mund, die er aber nicht anzündete. Er lag still und starrte in die Luft. Die anderen sprachen nicht mit ihm, zwinkerten einander aber vielsagend zu und gingen dann wieder ins Freie. »Er war kein guter Verlierer, deshalb haben wir nichts gesagt.«
    Nur einer blieb, ein Soldat von etwa zwanzig Jahren. Eichfuss unterhielt sich öfter mit ihm; er sprach lieber mit den jüngeren Soldaten als mit den älteren Offizieren, die ihn entweder nicht ausstehen konnten oder aber Freunde hatten, die ihn hassten. Der junge Mann setzte sich vor Eichfuss hin, zündete eine Zigarette an und sagte:
    – Da siehst du mal, wie es einem gehen kann. Jetzt haben sie dich ganz schön fertiggemacht, was? Jetzt ist es aus mit dem freien Herumlaufen.
    Eichfuss sagte nichts, bewegte sich nicht, steckte seine Pfeife nicht an, sondern sah nur mit seinen klaren, hellblauen, tiefliegenden Augen an die Zeltdecke.
    – Jetzt hast du nichts mehr zu melden, sagte der andere.
    Er erinnert sich, wie Eichfuss zu lächeln begann, immer

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