Die Ausgelieferten
das klar geworden war, empfand er es als enttäuschend und erleichternd zugleich.
Die Tüchtigkeit oder Untüchtigkeit einer Behörde oder eines Ausschusses hatte mit dieser Erkenntnis nichts zu tun; auch die Auslieferung gehörte nicht hierher. Es kam ihm nur so vor, als würde der große Überblick auf Teilkenntnisse reduziert. Einige Menschen verfügten über eine übersichtliche Reihe von Einzelkenntnissen, die sie mit einer ideologischen Bewusstheit zu stabilisieren wussten. Andere wussten weniger. Die Kenntnisse aber hatten mit dem, was der Untersucher für wichtig hielt, nicht unbedingt etwas zu tun: dass die Politik sich zwar aus Moral, Ideologie und Fakten zusammensetzt, dass sie aber nicht einem bestimmten Personenkreis vorbehalten bleiben darf.
Die allgemeine Diskussion um ihn herum setzte sich fort, während des Sommers, des Herbstes, des Winters, das ganze Jahr hindurch: das Gespräch über den Menschen als politisches Tier. Allmählich kam die Erkenntnis zum Vorschein, die so selbstverständlich war, dass er sich schämte, sie auszudrücken: dass sie alle politische Tiere waren und ein Recht auf Teilnahme hatten.
Es wurde ihm berichtet, dass der Auswärtige Ausschuss später etwas besser geworden sei: nicht viel, aber etwas. Es gab kleine schriftliche Orientierungshilfen, Berichte über Sonderfragen, kurze hektographierte Untersuchungsberichte, die man unter dem Siegel der Verschwiegenheit in kleinem Kreise weiterreichte.
Er sollte sich aber dennoch immer wieder fragen: wer veranlasste diese Untersuchungen? Wer führte sie durch? Welcher Beamte, welcher Hintergrund, welche Wertvorstellungen, was für eine Familie, welche Erziehung?
»Ein Schulbeispiel«, las er im Herbst 1966 über eine ganz andere Frage, »ein Schulbeispiel für den Triumph der Nachlässigkeit. Unser gegenwärtiges Engagement in dieser Frage ist nicht die Folge einer wohlüberlegten und sorgfältig geplanten Politik, sondern die Folge einer Reihe kleinerer Beschlüsse. Hinterher bleibt festzustellen, dass jeder neue Schritt nur zum nächsten führte, bis …«
Er hörte rechtzeitig auf zu lesen, um die Zitate in einem beliebigen Zusammenhang benutzen zu können. Verhielt es sich so? Eine Reihe kleiner Zufälle, kleiner Beschlüsse? Oder war dies der Versuch des ideologischen Idioten, seine Unwissenheit zu bemänteln?
Vielleicht passt das Zitat besser auf das Jahr 1945 als auf das Jahr 1966. Es würde ihn nie von der Einsicht abbringen, dass Politik grundsätzlich zugänglich ist. Dass die Politik im Grunde keine Geheimnisse hat. Dass sie nicht bestimmten Menschen vorbehalten ist, keinem geschlossenen Zirkel.
Fünf Monate nach der Sitzung des Ausschusses, im November 1945, wurde von Ivar Anderson im Reichstag behauptet, der Auswärtige Ausschuss sei überhaupt nicht informiert gewesen, um was es gehe. »Die Angelegenheit lag den Herren nicht in der Form vor, in der sie nun dargestellt wird. Die Überlegungen des Auswärtigen Ausschusses kreisten infolgedessen um die Frage, ob die betreffenden Militärs – hauptsächlich Deutsche – an eine interalliierte Kommission übergeben werden sollten, aber nicht um die jetzt zur Debatte stehende Auslieferung.« Per Albin Hansson konnte mit gleichem Recht feststellen, dass »die Regierung den Auswärtigen Ausschuss nicht im unklaren gelassen hat, dass nur der vorgesehene Weg gangbar ist. Wir haben zwar auch die andere Möglichkeit erörtert, aber da sie uns nicht zu Gebote stand, ist es völlig klar gewesen, dass wir den jetzt beschlossenen Ausweg beschreiten müssen.«
Die großen Linien der im Juni begonnenen Debatte scheinen klar zu sein: die These von der Teilnahme und der Verantwortlichkeit aller. Der Auslieferungsbeschluss war von einer Koalitionsregierung gefasst worden. Zu einem Teil stützte er sich auf Überlegungen des Auswärtigen Ausschusses. Dort war die Frage zum erstenmal diskutiert und in ihren Grundzügen dargelegt worden. Der künftige politische Verlauf der Dinge sollte von dieser These bestimmt sein.
Die Sitzung des Auswärtigen Ausschusses am 11. Juni 1945 ist folglich eine wichtige Sitzung.
Die Situation spitzt sich dadurch zu, dass an jenem Tag zwei Außenminister dem Ausschuss angehörten. Dort saß Christian Günther, Außenminister der Koalitionsregierung und verantwortlicher Ressortchef in der Frage der Auslieferung. Diese Sitzung war seine letzte in diesem Ausschuss (er trat mit der Koalitionsregierung ab), und das war späterhin verhängnisvoll. Dem
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