Die Ausgelieferten
Sitzung in rein formaler Hinsicht?
– Damals hielten wir sie für eine bloße Orientierung durch die Regierung; man kann auf keinen Fall annehmen, dass diese Form der Information eine Zustimmung des Ausschusses zum Auslieferungsbeschluss der Koalitionsregierung zur Folge hatte. Drei Stimmen waren dagegen, die anderen schwiegen, waren etwas überrumpelt und stimmten zu. Der Vortrag war ja so schludrig, unklar und vage.
– Haben Sie damals schon gewusst, dass die Regierung später die Auslieferung beschließen würde?
– Wir haben erst im November Endgültiges erfahren.
Drei Stimmen dagegen: zwei Sozialdemokraten und ein Mann der Rechten. Die anderen unentschlossen, alle schlecht orientiert. Keiner war sich bewusst, dass die Frage kontrovers war.
In den Versionen Undéns und Andersons finden sich klare Widersprüche. Der wichtigste betrifft Undéns Rolle und die Frage, ob die Auslieferung an eine interalliierte Kommission oder direkt an die Russen erfolgen sollte. Die beiden unklaren Punkte fallen teilweise zusammen. Möglicherweise trügt die Erinnerung Ivar Andersons, man vertausche nur die Frage, ob die Internierten an eine interalliierte Kommission ausgeliefert werden sollten mit der ursprünglichen Frage: Auslieferung oder keine Auslieferung. Man vertausche die negative Einstellung Undéns gegenüber der »interalliierten Kommission« mit seiner Haltung zur Auslieferung überhaupt.
Wie auch immer: niemand erfasste die Reichweite des Problems und die möglichen Komplikationen. Hätte einer der Opponenten mit Kraft und Überzeugung auf die möglichen Komplikationen in dieser Frage hingewiesen, hätten sich mehrere Ausschussmitglieder zu Wort gemeldet. Trotz allem ist es nicht wahrscheinlich, dass irgend jemand sich stark engagierte, nicht einmal einer der drei, die Widerspruch anmeldeten.
So endete die erste Sitzung, in der über die Frage der Auslieferung gesprochen wurde: am 11. Juni 1945.
Was sich aber im Gedächtnis des Untersuchers am längsten erhalten sollte, war die ironische Schlussvignette zu dieser zentralen, schicksalsschweren, schläfrigen und idyllischen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses. Der Anfang erschien so unschuldig, über allem lag das zweideutige kleine Gefühl von Zufälligkeit, Laune. Lange noch würde er dieses Gemach der Königin Sofia vor sich sehen, die goldenen Ornamente und die Teppiche, die hohen Fenster, den langen Tisch mitten im Raum und die grüne Tischdecke, die frühe Sommersonne und die kühle Luft, die beim Eintreten in den Raum so leicht und rein zu sein schien, lange noch würde ihm das Bild von der schwierigen Debatte vorschweben; er sah den König vor sich, der fast neunzig war und diese Sitzung schon fast zwei Stunden ausgehalten hatte. Dazu kam noch das leise Schuldbewusstsein der Anwesenden, vielleicht war es auch Ratlosigkeit, und schließlich, als alle glaubten, die Sitzung sei zu Ende, als sie die Norwegen und Dänemark betreffenden Probleme ausdiskutiert hatten sowie Fragen der Nachkriegszeit, als jeder an sein Mittagessen dachte, an seinen Zug oder an seine Familie, bat plötzlich Günther ums Wort. Ein Schauer von Missvergnügen und Unlust machte sich bei allen bemerkbar, aber nur vorsichtig, niemand sollte etwas merken. Irgend jemand knisterte mit Papier, der Salon war kühl und still, irgend jemand kämpfte mit seiner Müdigkeit, und dann, plötzlich, kam alles so heimtückisch über sie, dass sie sich des Überfalls gar nicht bewusst wurden, dass sie erst im November wach wurden. Im November aber war alles zu spät.
Günther wandte sich an den König, bekam ein Kopfnicken zur Antwort, er räusperte sich, sah auf und erhielt das Wort.
– Da ist noch etwas, sagte Günther.
Zwei Tage später fand eine Staatsratssitzung statt. Die Regierung war in einem Raum des Kanzleihauses versammelt, niemand fehlte. Die meiste Zeit wurde über Flüchtlingsprobleme gesprochen. Vor allem wurde über jene sechsunddreißigtausend zivilen Balten diskutiert, die sich inzwischen in Schweden befanden. Alle wussten, dass die Russen über diese Tatsache nicht gerade froh waren, und das nicht nur, weil eine gewaltige Arbeitskraftreserve verlorengegangen war. Den Russen – das war während einiger Verhandlungen sehr deutlich geworden – war es besonders unangenehm, dass eine neue antisowjetische Propagandazentrale in Stockholm errichtet werden könnte. Sie hatten während der Jahre zwischen den beiden Kriegen eine solche Zentrale in nächster Nähe, in Riga nämlich,
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