Die Ausgelieferten
Gesprächs, begründete er ausführlich seinen Standpunkt: das ist eine andere Geschichte, eine andere Zeit, wir können später darauf zurückkommen. Aber gerade beim Abschied in dem dunklen Flur, als der Besucher gehen wollte, begann Undén von neuem über den Ausschuss und seine Aufzeichnungen zu sprechen.
– Die Diskussionen des Auswärtigen Ausschusses werden nicht protokolliert, das ist gleichsam eine Voraussetzung dafür, dass sie überhaupt zustande kommen. Es gibt aber viele, die Aufzeichnungen machen und sie später veröffentlichen. Ich habe das nie gemocht. Es ist, als wollte man subjektive offizielle Protokolle führen. Niemand kann den Wahrheitsgehalt kontrollieren, aber sie machen einen korrekten und überzeugenden Eindruck.
– Haben auch Sie Protokoll geführt oder Aufzeichnungen gemacht?
– Ja, das habe ich getan. Und die kann ich nicht aus der Hand geben. Aber manchmal wünschte ich, ich könnte einiges daraus publizieren, aber ich weiß nicht recht. Ich weiß nicht, ob ich es kann.
– Zum Beispiel was?
– Die Aufzeichnungen über die Sitzung vom 11. Juni 1945. Um meinen Einsatz und meine Verantwortlichkeit exakt darlegen zu können. Es sind keine sehr ausführlichen Notizen, aber sie sind deutlich.
– Dürfte ich sie einsehen?
Er stand still und nachdenklich da, und es dauerte fast eine Minute, bis er antwortete.
– Ich würde sie gern veröffentlicht sehen. Dieses Papier beleuchtet eine für mich sehr wichtige Seite der Frage. Aber ich weiß nicht recht. Ich weiß nicht.
Es wurde nie etwas daraus.
Ivar Anderson war von 1935 bis 1948 Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, er gehörte der politischen Rechten, der högerparti , an, war ab 1940 zugleich Chef des Svenska Dagbladet . Er machte bei jeder Sitzung Notizen, oft detaillierte. An den 11. Juni 1945 erinnert er sich sehr gut.
Die Behandlung der Balten-Affäre kam am Ende einer Sitzung zur Sprache. Man hatte schon annähernd zwei Stunden debattiert, und alle wussten, dass die Sitzung bald geschlossen werden musste, da der König ihr vorsaß. Er war schon fast neunzig, worauf man beinahe automatisch Rücksicht zu nehmen pflegte: man durfte ihn nicht zu sehr strapazieren. Wie immer oder fast immer in jener Zeit wurde die Sitzung im Schloss abgehalten, im Gemach der Königin Sofia, einem alten Speisesaal. Sie saßen an einem langen Tisch, der König an der Schmalseite, vom Außenminister und dem Premierminister flankiert.
Man hatte schon seit zwei Stunden diskutiert. Es war ein schöner Frühsommertag, die Sonne schien, die Luft war klar, die Temperatur betrug um 13 Uhr 18,5 Grad: die letzte Sitzung des Jahres. Man hatte bislang vorwiegend aktuelle Probleme diskutiert, die Norwegen und Dänemark betrafen, und war fast fertig.
Da bat Günther ums Wort und sagte:
– Da ist noch etwas.
Darauf trug er die Angelegenheit vor. Es war, Ivar Anderson zufolge, eine sehr schludrige Darlegung des Problems, »wie gewöhnlich bei Günther«. »Er hatte kein Gefühl für Form. Er war sehr unpräzise, sprach schnell, nuschelig und leise, und wer unten am Tisch saß, konnte seine Worte nur schwer verstehen.«
Günther erklärte, die Russen hätten eine Auslieferung der nach Schweden geflohenen deutschen Soldaten verlangt, eine Auslieferung derjenigen, die deutsche Uniform getragen hätten. Günther wies darauf hin, dass Schweden nicht verpflichtet sei, dem Begehren der Russen nachzukommen.
Nach Ivar Andersons Erinnerung lief der Vortrag darauf hinaus, dass die Betroffenen an eine interalliierte Kommission ausgeliefert werden sollten.
Günther sprach ohne Manuskript.
– Hat er erwähnt, dass sich unter den Internierten auch Balten befanden?
– Nein … ja, vielleicht. Es wurde möglicherweise erwähnt. Es gab aber kaum jemanden, der diese Unterscheidung begriff, wir waren ja völlig unvorbereitet.
– Gab es eine Diskussion?
– Ja, drei Mitglieder des Ausschusses meldeten Bedenken an, jedes auf seine Weise: Sandler, Undén und ich. Aus meinen Aufzeichnungen geht hervor, dass Undén sehr heftig opponierte. Ich selbst widersprach von einem moralischen Standpunkt aus; ich habe zwischen Deutschen und Balten keinen Unterschied gemacht. Ich hatte kein Gefühl dafür, dass es einen Unterschied geben könnte. Erst später wurde ein Unterschied offenbar; Undén zum Beispiel arbeitete später ja nur für das Ziel, die Balten nicht auszuliefern. Für die Deutschen hatte er nicht das geringste Mitgefühl.
– Wie betrachten Sie die damalige
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