Die Ausgelieferten
die Dinge nehmen würden.
Er sprach nur mit Gailitis und Ziemelis. Mit Eichfuss sprach er kein Wort. Eichfuss machte auf ihn den Eindruck eines Königs ohne Land, eines Menschen ohne Macht.
Am Abend versammelte Tepfers ein paar der Offiziere um sich, um ihnen einen Vorschlag zu machen. Die Gefahr, dass die Soldaten tatsächlich ausgeliefert wurden, war sehr groß. Den Auslieferungsbeschluss konnten die Internierten kaum beeinflussen, aber sie konnten fliehen. Noch war es Zeit. Nicht alle konnten fliehen, das war unmöglich, aber immerhin einige. Aus vielen Gründen, meinte Tepfers, sei es das beste, den Fluchtplan auf die Offiziere zu beschränken. Sie müssten ihn selbst ausarbeiten, nach dem, was er gesehen habe, sei eine Flucht nicht unmöglich, die Bewachung sei noch nicht besonders streng. Außerhalb des Lagers würden sich andere um die Flüchtlinge kümmern. Kleidung sei bereits vorhanden, dank der Hilfe baltischer Organisationen und »schwedischer Freunde«. Sie würden Zivilkleidung erhalten, Geld, Möglichkeiten, in andere Länder zu fliehen. Sie sollten versuchen, über Norwegen nach England zu kommen.
Der Vorschlag sollte nie in die Tat umgesetzt werden; warum, weiß niemand. Vielleicht hielt der Gedanke, dass man die einfachen Soldaten im Stich lassen müsste, einige zurück. Vielleicht war eine Flucht allein schon aus technischen Gründen ausgeschlossen.
Wie auch immer: die Wolken zogen sich drohend zusammen.
Am 16. November bereiteten die Internierten die Feier des Nationalfeiertags am 18. November vor. Der Chor probte. Am 17. neue Proben, Planung des Zeremoniells. Am 18. erschien morgens der lettische Pastor Terinz. Lettisch zu sprechen hatte man ihm verboten, er durfte sich mit den Lagerinsassen nur in deutscher Sprache und in Gegenwart eines schwedischen Offiziers unterhalten.
Um 11 Uhr hielt er einen Gottesdienst ab. Er erwähnte mit keiner Silbe, was er wusste: dass die Balten ausgeliefert werden sollten. Der Gottesdienst wurde in deutscher Sprache abgehalten. In das Gebet nach der Predigt, ein lettisches Gebet, streute Terinz jedoch einige Sätze ein, die alle aufhorchen ließen. Er betete für diese Männer, über deren Köpfen sich schwarze Wolken zusammenzögen. Schwarze Wolken aus dem Osten. Es gebe Männer, deren Leben jetzt in großer Gefahr sei.
Nach dem Gottesdienst wurde der Lunch eingenommen; Terinz saß zwischen zwei schwedischen Offizieren. Ein offenes Gespräch schien unmöglich zu sein. Einer der lettischen Offiziere schrieb später jedoch in sein Tagebuch: »Pastor Terinz kommt zu Besuch. Können uns ein wenig unterhalten.«
Am Abend des 18. November neue Zusammenkunft in der baltischen Offiziersbaracke.
Am Tag darauf ist die Stimmung gedrückt. Einer der Soldaten schreibt in sein Tagebuch: »Offiziere nervös. Niemand weiß, was zu tun ist. Ich liege den ganzen Tag auf dem Bett und starre die Decke an.«
Am 20. November wird plötzlich die Bewachung verschärft, der Stacheldraht verstärkt, die Zahl der Posten erhöht. »Die Bewachung scheint strenger zu werden. Die Schweden sagen, der Besuch Tepfers’ sei der Grund. Verwirrung und Gerüchte. Jetzt kann alles mögliche passieren.«
Noch immer wussten die Balten nicht endgültig Bescheid; die Nachricht, die allen Fragen und Zweifeln ein Ende machen und sie zum Handeln hätte veranlassen können, war noch nicht eingetroffen. Gegen 17 Uhr am Nachmittag des 21. November meldete sich eine lettische Frau bei der schwedischen Lagerwache. Sie behauptete, eine Nachricht für einen Insassen zu haben, einen Mann namens Raiskums. Es sei eine Nachricht über seine Frau, man habe sie wiedergefunden, sie befinde sich in Paris. Die Frau bat, ihn sofort sprechen zu dürfen.
Nach kurzer Diskussion beschloss der schwedische Wachhabende, dem Wunsch der Frau nachzugeben, allerdings unter der Bedingung, dass sie nur deutsch spreche und keinen Versuch unternehme, dem Internierten irgendeine unerlaubte Mitteilung zu machen.
Sie stimmte willig zu.
Nach einer Viertelstunde kam Raiskums. Auch ihm hatte man die Bedingungen für das Treffen mitgeteilt. Er trat ins Zimmer, gab der Frau die Hand und begrüßte sie, sah sie fragend an, sagte aber nichts. Die Frau teilte ihm auf Deutsch mit, dass es ihr gelungen sei, die Adresse von Frau Raiskums in Paris ausfindig zu machen, die sie ihm jetzt geben wolle.
Raiskums sah die Besucherin prüfend an. Er wusste genau, dass seine Frau sich in Lettland befand, es gab also gute Gründe, diese Botin genau
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