Die Ausgelieferten
im Auge zu behalten. Die Frau lächelte ihn an, gab dem schwedischen Offizier einen Zettel und erklärte, dies sei die Adresse. Dort stand: Frau Raiskums. Rue Pieteicàt Badu XXII .
Der Schwede reichte den Zettel wortlos an Raiskums weiter. Dieser blickte auf das Papier und blieb eine Weile stumm. Es handelte sich offensichtlich um eine verschlüsselte Mitteilung, aber der Kode war leicht zu verstehen. »Frau Raiskums« hatte nichts zu bedeuten, ebensowenig das Wort »Rue«. Die anderen Worte bedeuteten »befehlen«, »hungern« und »22«.
Dies war möglicherweise etwas ganz anderes als eine Adresse.
Er dankte der Frau, immer noch auf Deutsch, und umarmte sie. Als sie seine Umarmung erwiderte, flüsterte sie ihm einige lettische Worte ins Ohr, eine Mahnung, bereit zu sein. Er machte sich frei, nickte dem schwedischen Offizier zu und ging in seine Baracke zurück. Endlich wussten sie Bescheid. Außerdem wussten sie, was sie zu tun hatten.
Die Angaben über die genaue Formulierung der verschlüsselten Mitteilung sind verschieden, je nach der Quelle. So heißt es woanders zum Beispiel: Frau Raiskums. Sákiet Badú XXII, Jús izdod. Über den Inhalt der Mitteilung sind sich jedoch alle Zeugen einig.
Die Frau arbeitete nicht aus eigener Initiative: sie war von »einigen Landsleuten« geschickt worden, die sie auf dem Stockholmer Hauptbahnhof mit Material versehen hatten. Den größeren Teil dieses Materials konnte sie noch am selben Abend ins Lager hineinschmuggeln. Die Internierten hatten, nachdem sie von Raiskums informiert worden waren, entlang des Zauns Wachen aufgestellt. Bei einer Wachablösung der Schweden nahm sie ihre Chance wahr, rannte auf den Zaun zu und warf zwei Päckchen Papier, die mit einem Stein beschwert waren, über die Absperrung.
Sie sah, dass die Balten sie beobachtet hatten und die Päckchen sofort aufhoben, worauf sie in die Baracken zurückkehrten. Jetzt konnte sie sich auch selbst zurückziehen. Sie hatte ihren Auftrag erfüllt – die Legionäre wussten jetzt alles.
Was enthielten die Päckchen, die über den Zaun geworfen worden waren?
Vincas Lengvelis, Pilzsammler, Partisanenjäger und litauischer Offizier, erwähnt die Episode in seinem Bericht mit einigen Worten. Dort heißt es:
»Eines Nachts hielt in der Nähe des Lagers ein Wagen, und jemand warf einen auf Schwedisch abgefassten Brief über den Zaun. Der Wachposten, den wir selbst aufgestellt hatten, brachte uns den Brief, den wir sogleich übersetzten. Die Urheber des Briefes rieten uns zu einem Hungerstreik. Daraufhin bildeten wir am nächsten Tag ein Streikkomitee, das den Streik verkündete.«
Es gibt viele Fragen.
Warum war der Brief auf Schwedisch geschrieben? War dieser Brief etwa identisch mit den Papierpäckchen, die die lettische Frau über den Zaun geworfen hatte? Wer waren die »Urheber« des Briefes, und warum rieten sie den Internierten ausgerechnet zu einem Hungerstreik?
Mit welchen Männern war die Frau im Stockholmer Hauptbahnhof zusammengetroffen?
Wie auch immer: am Abend des 21. November wurden sämtliche baltischen Offiziere zu einer Krisensitzung zusammengerufen. Die Zeugenaussagen über diese Zusammenkunft sind höchst vage und widersprechen einander. Alle Anwesenden schienen zu aufgeregt gewesen zu sein, um die nun plötzlich eintretende Änderung der Machtverhältnisse zu bemerken.
Über die Aufforderung zum Hungerstreik hat offenbar sofort Einigkeit geherrscht; Zögern oder Proteste gab es nicht. Im übrigen scheint es über die Organisation des Kampfes zu einigen Diskussionen gekommen zu sein. Gailitis betonte, dass man irgendwie ausbrechen müsse, und wenn das nicht möglich sei, müsse man der Demonstration durch Selbstverstümmelungen oder – notfalls – Selbstmorde Nachdruck verleihen. Eine kleine Gruppe der lettischen Offiziere unterstützte seine Vorschläge.
Eichfuss dagegen meinte, dass ein Hungerstreik eine hinreichende Demonstration des passiven Widerstands sei. Auf seiner Seite stand eine etwas größere Gruppe, aber jetzt galt es vor allem, einig zu bleiben, die Katastrophe stand so kurz bevor, dass für interne Streitereien keine Zeit mehr blieb.
Die Wahl des Streikkomitees spiegelt den Charakter des Kompromisses wider. Zu Vertretern der Offiziersgruppe wurden zwei Ärzte ernannt: Eichfuss und der Litauer Zenkevicius, was der Aktion einen nichtmilitärischen Anstrich geben sollte. Diese Wahl fand die Billigung aller, auch Gailitis stimmte zu. Jetzt standen zwei Ärzte an der
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