Die Ausgelieferten
diskutieren sie eifrig. Es war genau 8 Uhr. Die Schweden erschienen als kleine graue Figuren mit umgehängten Gewehren; worüber sie sprachen, war nicht zu hören. Der Patrouillendienst wurde bald wieder aufgenommen. Es kamen Offiziere, die kurz ins Lager hineinblickten und wieder weggingen.
In den Baracken lagen jetzt alle Balten in ihren Betten.
Um 8.45 Uhr kam Dr. Elmars Eichfuss-Atvars über den lehmigen Hof gestapft, mit ihm vier andere Männer. Es waren Cikste, Zenkevicius, Radzevics und Kaneps. Sie gingen, mit Eichfuss an der Spitze, zum Lagertor und baten den schwedischen Posten, er möge den Lagerkommandanten holen. Es dauerte nur fünf Minuten, bis der schwedische Major Grahnberg herauskam. Am Lagertor stehend, hörte er, wie der Führer der Balten, Eichfuss, an diesem leicht diesigen Novembermorgen die Erklärung verlas, dass heute ein Hungerstreik beginne.
Als er fertig war, faltete Eichfuss den Zettel sorgfältig zusammen und reichte ihn dem Schweden mit einem verbindlichen Lächeln hin. Die Formalitäten waren erledigt, der Streik konnte beginnen. Sogleich zogen sich alle in ihre jeweiligen Bastionen zurück.
Welche Initiativen kommen von außen, welche von innen? Gab es Vorbilder für diese Aktion? Eine große Zahl der baltischen Legionäre in deutschen Diensten landete nach Kriegsende in westalliierter Gefangenschaft. Amerikaner und Engländer stoppten die begonnene Auslieferung dieser Männer an die Sowjets schon nach kurzer Zeit. »Der Grund dafür sollen die vielen Selbstverstümmelungen und Selbstmorde gewesen sein, die schon beim ersten Transport verübt wurden.«
Wann war dieser Transport abgegangen? Gab es Verbindungen?
8
A n diesem ersten Streiktag hat Eichfuss eine kurze Unterredung mit dem schwedischen Lagerarzt Erik Brattström. Das Gespräch findet um die Mittagszeit statt. Eichfuss erzählt Brattström von den Blumen in der Ukraine nördlich der Krim.
Dort soll es eigenartige Blumen geben, eine Tulpenart, Zwiebelgewächse, die überall wild wachsen. In diesem Teil der Ukraine, erzählt Eichfuss, ist die Landschaft leicht hügelig und sehr schön. Im Frühling beginnen all diese Zwiebelpflanzen zu blühen. Es gibt sie überall, sie bedecken alle Hügel, bedecken die Landschaft mit phantastischen Farben. Er erzählt ausführlich und präzise und sehr anschaulich von der Landschaft der Ukraine, vom Frühling und der Blüte dieser Pflanzen, die überall, so weit das Auge reicht, die Hügel der Ukraine nördlich der Krim bedecken.
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BALTEN: LIEBER DEN TOD ALS DIE SOWJETUNION – WIR BINDEN UNS MIT STACHELDRAHT FEST – 57 MINDERJÄHRIGE SOLLEN AUF DAS SKLAVENSCHIFF
»Stockholms-Tidningen« am 24.11.1945
B ereits am zweiten Streiktag begannen Neugierige herbeizuströmen.
Sie kamen aus allen Richtungen nach Ränneslätt, die meisten von Süden her, aus Eksjö, auf Fahrrädern oder zu Fuß. Sie wurden von den Wachposten angehalten, verteilten sich, schwärmten aus, standen in kleinen Trauben beisammen und schauten durch den Stacheldraht zu den Baracken hin, versuchten, etwas zu erkennen. Sie sahen die Stacheldrahtabsperrungen, einige Militärlastwagen, Militärzelte, im Hintergrund Baracken. Menschen, die man für Internierte halten konnte, sahen sie nicht, obwohl sie mitunter kleine Spielzeugfiguren zu erkennen meinten, die sich in weiter Ferne bewegten.
Reaktionen: Neugier, gedämpftes Gelächter, ernstes Kopfnicken, Schweigen, Versuche, die schwedischen Wachen auszuhorchen, geflüsterte Gespräche, Seitenblicke, resigniertes Kopfschütteln, vielsagendes Lächeln, Ernst, »Trauer«, Trauer, Interesse, kleine Sprünge, um sich warm zu halten.
Kein Schnee. Die Temperatur hielt sich mit geringen Abweichungen bei null Grad. Morgens wurde Nebel registriert. Kein Eis auf dem See.
Nachts konnte man im ganzen Lager ein schwach brummendes Geräusch hören, es glitt über die Ebene hinaus: ein leises, aber deutlich hörbares Summen, es kam von einem Akkumulator, der wegen der vielen Scheinwerfer installiert worden war. Die Absperrungen hatte man jetzt erheblich verbessert, das ganze Lager war von einem Doppelzaun umgeben, in regelmäßigen Abständen hatte man starke Scheinwerfer angebracht und überdies die Zahl der Wachposten erhöht: bereits am zweiten Streiktag belief sich ihre Zahl auf über tausend Mann, die man in Zelten außerhalb des Lagers unterbrachte. Nachts war die ganze Ebene in helles Licht getaucht, die Posten bewegten sich wie leise Schatten, da der Boden noch feucht und
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